Von Thomas Schade
Ein Blitz lässt Uwe Appenheimer seit Monaten am Rechtsstaat zweifeln. Nur Millisekunden lang und grell schoss das rote Licht am 21. Mai 2007 um 12.20 Uhr aus dem olivgrünen Kasten ins Gesicht des 46-jährigen Gastwirtes.
Auf dem Weg zum Globusbaumarkt passierte Appenheimer an jenem Tag die einzige Ampelkreuzung von Dörgenhausen vor den Toren von Hoyerswerda. „Es war knapp, aber bei Rot bin ich nicht über die Kreuzung gefahren“, sagt Appenheimer. Er kann Rot, Gelb und Grün unterscheiden. „Das kontrolliert jedes Jahr der Doktor.“ Appenheimer fliegt Leichtflugzeuge und muss regelmäßig zum medizinischen Check-up. Außerdem sei er ein gesetzestreuer Bürger: „Ich nehme Behinderten nicht den Parkplatz weg, ich kenne Liechtenstein aus dem Atlas, und nicht mal bei Frau Birthler habe ich etwas über mich gefunden“, frozzelt er.
Die ganze Härte des Gesetzes
Seit vielen Wochen schon blitzt es nicht mehr aus dem Kasten an der Kreuzung Kamenzer Bogen Ecke Wittichenauer Straße. Doch den Gastwirt aus dem kleinen Ort Weißig trifft seither das Gesetz in seiner ganzen Härte. 1,91 Sekunden habe das rote Licht der Ampel bereits geleuchtet, als er die Kreuzung befuhr, heißt es im Bußgeldbescheid aus dem Hoyerswerdaer Rathaus. 125 Euro Geldbuße, vier Wochen Fahrverbot und vier Punkte in Flensburg donnerten auf Appenheimer nieder. Doch der ließ sich davon nicht schrecken, legte Widerspruch gegen den Bescheid ein.
Ohne juristischen Beistand saß er einige Wochen später im Hoyerswerdaer Amtsgericht vor Evelin Kloß. Die 49-jährige Richterin ist eine lebenserfahrene Juristin. Erst wenige Wochen zuvor hatte sie den ersten Raucher freigesprochen, den städtische Kontrolleure im „Grillhaus Istanbul“ trotz Rauchverbot beim Qualmen erwischt hatten und mit Bußgeld bestrafen wollten.
Auch Uwe Appenheimer hat die Amtsrichterin in angenehmer Erinnerung. „Mein Ruf nach Freispruch verhallte ungehört, aber die Richterin wusste, was ein Gastwirt nicht gebrauchen kann“, sagt er. Sie schraubte Appenheimers Bußgeld auf 200Euro hoch und erließ dafür das Fahrverbot. Das Urteil vom 7.September 2007 wurde sofort rechtskräftig. Bis Ende Januar sollte er insgesamt 252,52 Euro an die Landesjustizkasse zahlen: Bußgeld, Gebühren, Verfahrenskosten.
Ein Gutachten mit Folgen
Noch ehe er zahlte, las Appenheimer in der Zeitung von dem Lkw-Fahrer aus Solingen, dem es an derselben Ampel ähnlich ergangen war. Der Berufskraftfahrer hatte einen Rechtsanwalt um Hilfe gebeten. Außerdem wurde der Sachverständige Dieter Rachel aus Riesa mit einem Gutachten über den Blitzer am Kamenzer Bogen beauftragt. Als alle Beteiligten dieses Falls am 23.November 2007 ebenfalls vor der Amtsrichterin Kloß saßen, wurde amtlich bekannt, was viele ahnten: Die Anlage arbeite fehlerhaft, so die Richterin nach der Lektüre des Gutachtens.
Die Induktionsschleife, die die Zeitmessung auslöst, liegt nicht wie vorgeschrieben einen bis eineinhalb Meter vor der Haltelinie der Autos in der Fahrbahn, sondern sechs bis sieben Meter davor. Außerdem wird der olivgrüne „Starkasten“ nicht wie vorgeschrieben mit 220 Volt Stromspannung betrieben, sondern nur mit 42 Volt. Die Folge: Die Anlage weise die „Rotlichtverstöße nicht zweifelsfrei nach“, so das Gutachten.
Auf Suche nach Gerechtigkeit
Der Brummi-Fahrer aus Solingen bekam einen Freispruch erster Klasse, während Uwe Appenheimer wegen desselben Vergehens rechtskräftig verurteilt war und sein Bußgeld zahlte, um einer Pfändung und weiteren Kosten zu entgehen. Nun erst recht auf der Suche nach Gerechtigkeit, bat er im Amtsgericht um Rat. Er solle die Wiederaufnahme seines Falls beantragen und auf das Gutachten verweisen, wurde ihm geraten. Doch die Rechtspflegerin, die ihm dabei helfen sollte, schickte Uwe Appenheimer wieder heim. Ihre unhaltbare Begründung: Da sei nichts mehr zu machen, die Frist für eine Wiederaufnahme sei überschritten. Der Direktor des Amtsgerichts entschuldigte sich im März 2008 persönlich für das „nicht korrekte Verhalten“ der Rechtspflegerin.
665 fehlerhafte Messungen
„Beim zweiten Versuch wurde mir ausgesprochen freundlich und kompetent geholfen“, sagt Appenheimer. Fünf Monate lang zermahlten die Mühlen der Justiz seinen Wiederaufnahmeantrag. Am 28.August 2008 stellte ihm das Amtsgericht „anheim“, den Antrag zurückzuziehen, „um gegebenenfalls weiteren Kostenrisiken zu entgehen“. Denn nach „derzeitiger Rechtsauffassung“ folgte die ostsächsische Gerichtsbarkeit der ausgesprochen dünnen Argumentation der Staatsanwaltschaft. Die lehnte die Wiederaufnahme des Falls ab, weil Appenheimer über die fehlerhafte Blitzeranlage nur einen Zeitungsbericht und kein eigenes Gutachten hatte. Dabei waren dem Amtsgericht und der Stadtverwaltung das Gutachten des Experten seit einem Dreivierteljahr bekannt und der seit November 2007 abgeschaltete Blitzer vor den Stadttoren eine allen bekannte Tatsache. Heute glaubt Uwe Appenheimer: „Die wollten alle nur eine peinliche Blamage vermeiden.“ Denn er und der Berufskraftfahrer aus Solingen waren längst nicht die Einzigen, die in die Blitzerfalle geraten waren. Im April 2007 hatte die Stadt die Rotlichtüberwachungsanlage, wie sie im Amtsdeutsch heißt, in Betrieb genommen. Als der Blitzer nach sieben Monaten wegen der offensichtlichen Messfehler abgeschaltet werden musste, hatte die Stadt nach eigenen Angaben bereits 665 Bußgeldverfahren eingeleitet. In Rede stehen rund 80000 Euro, die der Fiskus damit kassierte–größtenteils zu Unrecht.
Gnadengesuch ruht
Uwe Appenheimer erfuhr am Vorweihnachtstag 2008 aus dem Amtsgericht, dass da „ein gewaltiger Stein ins Rollen gekommen“ sei, wie er sagt. Rund 400 Bußgeldverfahren müssen aufgehoben werden. 110 Fälle, in denen Urteile ausgesprochen wurden, seien wieder aufgenommen und in Freisprüche umgewandelt worden. Nur er habe Pech, erfuhr Uwe Appenheimer. Sein Wiederaufnahmeverfahren wurde bereits abgelehnt. „Damit hätte ich den Rechtsweg ausgeschöpft, sagte man mir“, so Appenheimer. Außerdem wurde er mit nur 200Euro Geldstrafe zu gering bestraft. Erst ab 250 Euro betreibt die Justiz den Aufwand eines Wiederaufnahmeverfahrens.
Im Rathaus von Hoyerswerda hält man sich mit Auskünften ziemlich zurück. Als Uwe Appenheimer von seinem Pech erfuhr, hatte Bürgermeister Stefan Sorka (CDU) bereits ein Gnadengesuch für fast 400 zu Unrecht beschuldigte Autofahrer beim Innenministerium in Dresden gestellt. Ob auch Gnade für Uwe Appenheimer beantragt wurde, will Rathaussprecher Bernd Wiemer nicht sagen.
Doch die Stadt hat es sich wohl etwas zu einfach gemacht. Denn seit etwa drei Wochen ruht dieses Gnadengesuch in Dresden, erklärt Ministeriumssprecher Lothar Hofner auf Nachfrage. Er bestätigt, dass es sich bei der Blitzerfalle von Hoyerswerda um einen „bundesweit einzigartigen Fall“ handelt. Nach einem weiteren Urteil des Amtsgerichtes muss die Stadt alle Fälle erneut überprüfen. Der Grund ist die Verurteilung eines Fahranfängers. Neben einer Geldstrafe verlor er auch seinen Führerschein, den er nun neu erwerben muss, wenn er wieder Auto fahren will. Das ist nach Ansicht des Innenministeriums mit so hohen Folgekosten verbunden, dass der Fall auch auf dem Rechtsweg durch die Wiederaufnahme im Sinne des Fahranfängers entschieden werden kann. Nach Bekanntwerden dieses Falles seien deshalb alle Akten wieder zurück nach Hoyerswerda geschickt worden, sagt Hofner.
Die Stadt muss nun alle Fälle auf diese Folgekosten überprüfen. Gnade ist eben nur der letzte Weg, um Rechtsfrieden herzustellen. In Dresden wird auf den immensen Aufwand in Verwaltung und Justiz verwiesen, den die Blitzerfalle verursacht hat. Abgebaut werden soll sie nicht. Die Kreuzung sei ein Unfallschwerpunkt, aber vordringlich sei das auch nicht, da es für die notwendige Reparatur noch keinen Termin gebe, so Stadtsprecher Wiemer.
All das hilft Uwe Appenheimer nicht. Ihm geht es schon lange nicht mehr um 252,52 Euro. Er nimmt das Grundgesetz zur Hand, das er mal im Bundestag geschenkt bekommen hat und liest Artikel 3 vor: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ Da müsse er eben dort hin, wo über diesen Artikel entschieden werde, sagt er.