Merken

„Triumph der Opfer“

Das salvadorianische Amnestiegesetz ist verfassungswidrig. Über 20 Jahre nach Ende des Bürgerkriegs können die Verbrechen in dem mittelamerikanischen Land aufgearbeitet werden. Das Urteil birgt allerdings sozialen Sprengstoff.

Teilen
Folgen
© dpa

Denis Düttmann

San Salvador. Seliggesprochen ist Óscar Romero bereits, doch Gerechtigkeit ist dem salvadorianischen Erzbischof bislang nicht widerfahren. Mitglieder einer rechtsextremen Todesschwadron hatten den streitbaren Priester 1980 während eines Gottesdienstes erschossen. Die Täter wurden allerdings nie zur Verantwortung gezogen. Ein 1993 verabschiedetes Amnestiegesetz verhinderte die juristische Aufarbeitung der Verbrechen während des Bürgerkriegs.

Jetzt hat der Oberste Gerichtshof von El Salvador das umstrittene Gesetz gekippt. Die Amnestie stehe im Widerspruch zum Schutz der Menschenrechte, verhindere die Verurteilung der Täter und die Entschädigung der Opfer, urteilten die Richter. Damit sei es verfassungswidrig.

„Das ist ein Triumph der Opfer über die Täter“, sagte Jeannette Aguilar von der zentralamerikanischen Universität UCA. „Wir müssen die Wahrheit über alle Taten erfahren, damit die Opfer ihre Würde zurück erhalten.“ Ähnliche Amnestiegesetze gibt es auch in anderen früheren Bürgerkriegsländern wie beispielsweise im benachbarten Guatemala.

In El Salvador ist nun der Weg frei für eine umfassende Aufklärung des düstersten Kapitels der Geschichte des mittelamerikanischen Landes. Zwischen 1980 und 1992 starben in dem Bürgerkrieg zwischen linken Rebellen, rechten Todesschwadronen und den Streitkräften mehr als 75 000 Menschen. Weitere 8 000 verschwanden und fast eine Million wurden aus ihren Heimatdörfern und -städten vertrieben. Nun können die Massaker der Streitkräfte ebenso aufgeklärt werden wie die Säuberungsaktionen in den Reihen der Guerilla.

„Das Urteil hat eine Tür aufgestoßen. Jetzt liegt der Ball im Spielfeld der Generalstaatsanwaltschaft“, sagte Geoff Thale vom Forschungsinstitut Washington Office on Latin America (Wola) der Deutschen Presse-Agentur. „Die Ermittler dürften unter erheblichem politischen Druck stehen. Jetzt muss sich zeigen, wie sie damit umgehen.“ Generalstaatsanwalt Douglas Meléndez sagte, er werde seine Pflicht erfüllen.

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International begrüßte die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs. „Das Amnestiegesetz hat nur dazu geführt, dass die Verantwortlichen für schwere Menschenrechtsvergehen jahrzehntelang davon gekommen sind“, sagte Regionalchefin Erika Guevara Rosas. „Jetzt kann sich das Land endlich mit seiner tragischen Vergangenheit auseinandersetzen.“

Das Urteil dürfte in der noch immer stark polarisierten Gesellschaft El Salvadors für erheblichen sozialen Sprengstoff sorgen. Wie tief der Graben zwischen den politischen Lagern ist, zeigt das äußerst knappe Ergebnis der letzten Präsidentenwahl. Die eine Hälfte der Bevölkerung steht der Partei FMLN nahe, die aus der linken Guerillabewegung hervorgegangen ist. Die andere Hälfte wird von der Partei Arena vertreten, die einst von Mitgliedern der rechten Todesschwadronen gegründet wurde.

„Ich denke, die salvadorianische Gesellschaft ist bereit dafür, dass einige repräsentative Fälle aus dem Bürgerkrieg vor Gericht verhandelt werden“, sagte Wola-Experte Thale. „Das wird sicherlich zu einigen Spannungen führen, aber es ist notwendig.“

Das Amnestiegesetz galt auch als Voraussetzung für einen Neuanfang nach dem jahrelangen Morden. Nach Einschätzung der UN-Wahrheitskommission wurden mehr als 80 Prozent der Verbrechen während des Bürgerkriegs von den staatlichen Sicherheitskräften verübt. Kritik kommt nun vor allem von der Rechten.

„Dieses Urteil zum Amnestiegesetz wird ernsthafte Auswirkungen auf das Zusammenleben in unserem Land haben“, sagte der frühere Arena-Präsidentschaftskandidat Norman Quijano. „Weitere Schritte sollten mit kühlem Verstand gemacht werden.“ Der Arena-Abgeordnete Ernesto Muyshondt gab zu bedenken, dass auch die Guerilla des heutigen Präsidenten Salvador Sánchez Cerén Verbrechen im Bürgerkrieg begangen hat. „Ohne das Amnestiegesetz finden wir uns vielleicht bald ohne Präsident und Vizepräsident, ohne zahlreiche Minister und einen guten Teil der Regierungsfraktion wieder“, sagte er. Der Vorsitzende der christdemokratischen Partei PDC, Rodolfo Parker, sagte: „Das ist ein anachronistisches Urteil. Ein aus dem Kontext gerissenes Urteil, das nichts zu den historischen Bedürfnissen des Landes beiträgt.“

Verteidigungsminister David Munguía nannte das Urteil einen politischen Fehler und warnte vor einer Hexenjagd. „Das Amnestiegesetz hat zur nationalen Versöhnung beigetragen“, sagte er der Zeitung „La Prensa Gráfica“. Auch Vizepräsident Oscar Ortiz warnte vor den Konsequenzen des Urteils. Das Ende der Amnestie könne die Demokratie gefährden und alte Wunden wieder aufreißen, sagte der frühere Guerillero.

Ob nun tatsächlich die Gräueltaten des Krieges aufgeklärt und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden, dürfte davon abhängen, mit wie viel Engagement sich die Ermittler an die Arbeit machen. Die Sicherheitskräfte haben gerade ganz andere Sorgen: El Salvador leidet seit Jahren unter einem blutigen Krieg zwischen verfeindeten Jugendbanden. In den Kämpfen zwischen den sogenannten Maras kamen zuletzt mehr Menschen ums Leben als bei den Gefechten des Bürgerkriegs. (dpa)