Die 39-Jährige hatte keine großen Bedenken, als ihr Arzt ihr eine Zystenoperation vorschlug. Doch als es so weit war, kam es bei dem Eingriff zu einer Verwechslung. Statt der Zysten-OP wurde bei der jungen Frau eine Sterilisation durchgeführt. Dadurch bleibt sie ihr Leben lang unfruchtbar. Es war ein Versehen, das niemals hätte passieren dürfen und vermeidbar gewesen wäre – ein klassischer Behandlungsfehler. Nicht immer ist die Bewertung von ärztlichen Unachtsamkeiten oder Fehlentscheidungen so eindeutig.
Die Einschätzung, ob ein ärztliches Versäumnis vorliegt, übernimmt der Medizinische Dienst (MD). Am Donnerstag hat der seinen Jahresbericht vorgestellt. Demnach wurden im vergangenen Jahr 12.438 fachärztliche Gutachten zu vermuteten Behandlungsfehlern erstellt – davon 660 für Patienten aus Sachsen. Das waren etwas weniger als in den Vorjahren. Bundesweit bestätigte sich in jedem vierten Fall der Verdacht, in Sachsen sogar in jedem dritten – das entspricht 200 bestätigten Fehlern.
Vieles bleibt unentdeckt
Die Dunkelziffer unentdeckter Behandlungsfehler ist allerdings hoch. „Wissenschaftliche Untersuchungen kommen zu dem Ergebnis, dass es bei einem Prozent der stationären Behandlungen zu Fehlern und vermeidbaren Schäden kommt“, sagt Stefan Gronemeyer, Vorstandsvorsitzender des MD. „Fachleute gehen zudem von etwa 17.000 fehlerbedingten, vermeidbaren Todesfällen in unseren Krankenhäusern aus.“ Gronemeyer berief sich dabei unter anderem auf eine Studie im Auftrag des Aktionsbündnisses Patientensicherheit.
Zwar kam es laut Bericht bei zwei Drittel der begutachteten Fälle nur zu vorübergehenden Schäden, und die Patienten sind wieder genesen. Bei einem Drittel blieben die Schäden jedoch dauerhaft. Der Medizinische Dienst unterscheidet hier zwischen leicht, mittel und schwer.
„Ein leichter Dauerschaden kann eine geringe Bewegungseinschränkung oder eine Narbe sein“, sagt Dr. Christine Adolph, Stellvertretende MD-Vorstandsvorsitzende. Zu einem mittleren Dauerschaden gehörten eine chronische Schmerzsymptomatik, eine erhebliche Bewegungseinschränkung oder die Störung einer Organfunktion. Ein schwerer Dauerschaden liegt vor, wenn Geschädigte pflegebedürftig, blind oder gelähmt sind. In 75 der vom Medizinischen Dienst im vergangenen Jahr begutachteten Fälle führte ein Fehler zum Tod.
150 besonders gravierende Fehler
Zudem erfassten die Gutachter des MD bundesweit 150 besonders gravierende Versehen – wie bei der 39-Jährigen, die keiner Kinder mehr bekommen kann. Das sind zum Beispiel nach einer Operation im Körper vergessene Gegenstände, verwechselte Patienten oder Körperteile, hochgradig wund gelegene Patienten, ebenso Fehler in der Medikation und Pflege. Der Medizinische Dienst nennt dies „Never Events“.
„Sieht man sich die Statistik an, dann fällt auf, dass wir Jahr für Jahr die gleichen schwerwiegenden Schadensereignisse finden“, sagt Gronemeyer. „Wir halten deshalb die Einführung einer bundesweiten Meldepflicht von Never Events für dringend notwendig.“ International, beispielsweise in Großbritannien, in den USA oder der Schweiz, sei sie längst Standard. „Unverständlich, das Deutschland das nicht umsetzt“, so der MD-Chef. Für das Erkennen, Umsetzen und Bewerten von Sicherheitsmaßnahmen seien Never Events besonders wichtig. „Eine Meldung muss sanktionsfrei und pseudonymisiert erfolgen können“, sagt Gronemeyer.
Versäumnisse auch in der Pflege
In der Jahresanalyse betrafen zwei Drittel aller Vorwürfe Behandlungen in der stationären Versorgung (8.177 Fälle), ein Drittel galt dem ambulanten Bereich (4.233 Fälle). „Die meisten Vorwürfe beziehen sich auf operative Eingriffe. Da diese häufig im Krankenhaus erfolgen, werden sie dem stationären Sektor zugeordnet“, sagt Adolph.
Mit rund 30 Prozent am häufigsten vertreten waren die Bereiche Orthopädie und Unfallchirurgie, dabei besonders der Hüft- und Kniegelenkersatz. An zweiter Stelle liegen die Innere Medizin und Allgemeinmedizin, gefolgt von Zahnmedizin, Frauenheilkunde und Geburtshilfe. Rund sechs Prozent der Vorwürfe bezogen sich auf die Pflege. „Eine Häufung von Vorwürfen in einem Fachgebiet sagt nichts über die Fehlerquote oder die Sicherheit in dem jeweiligen Gebiet aus“, sagt Adolph. Dies zeige vielmehr, dass Patienten reagieren, wenn eine Behandlung nicht ihren Erwartungen entspricht – wenn sich zum Beispiel nach einer medikamentösen Behandlung kein Erfolg einstelle oder sich die Symptome verschlimmerten.
Anspruch auf Schadensersatz
Die Analyse des MD macht aber auch deutlich: In den meisten Fällen – nämlich bei 71,1 Prozent – wiesen die Gutachter kein Fehlverhalten nach.
In rund jedem fünften Fall, also bei 2.679 Behandlungen, erlitten Patienten nachweislich wegen eines Fehlers der Mediziner einen Schaden, in Sachsen waren das 134 Fälle. Bei allen weiteren Gutachten lag entweder kein Schaden vor, oder es konnte kein eindeutiger Zusammenhang zum Fehlverhalten nachgewiesen werden.
Genau das ist jedoch die Voraussetzung dafür, dass Patienten einen Anspruch haben, Schadenersatz geltend zu machen. Wer das tut, muss dies im Streitfall beweisen. Das stellt Betroffene in der Regel vor große Hürden. Deshalb fordern Patientenvertreter schon lange eine Beweislastumkehr, bei der der Arzt nachweisen muss, keine Fehler begangen zu haben.
Das können Sie tun, wenn etwas schiefgelaufen ist
- Bei dem Verdacht auf einen Behandlungsfehler sollten sich Patienten zuerst an ihren behandelnden Arzt und an die zuständige Krankenkasse wenden. Auch die Gutachterstelle der Landesärztekammer Sachsen ist Ansprechpartner.
- Die Krankenkasse kann bei einem begründeten Verdacht den Medizinischen Dienst beauftragen, ein Sachverständigengutachten zu erstellen. Das ist für Patienten kostenfrei. Die Gutachter gehen dabei der Frage nach, ob die Behandlung nach anerkanntem medizinischen Standard und mit aller Sorgfalt abgelaufen ist.
- Medizinische Unterlagen sollten Patienten dafür zur Verfügung stellen. Zum Beispiel eine Erklärung zur Entbindung der Ärzte von der Schweigepflicht (Mustervordrucke bei der Krankenkasse), die Behandlungsunterlagen wie Arztbriefe, OP-und Pflegeberichte, Bildaufnahmen und Laborwerte, sowie ein Gedächtnisprotokoll, das den zeitlichen Ablauf des Geschehen zusammenfasst. Festgehalten werden sollte möglichst auch, wer alles an der Behandlung beteiligt war und welche Mitpatienten Zeugen sein könnten.
- Liegt ein Behandlungsfehler vor, wird geprüft, ob der Schaden durch den Fehler verursacht worden ist. Nur dann bestehen für Patienten Schadensersatzansprüche. Behandlungsfehler verjähren nach drei Jahren, wenn zwischenzeitlich keine rechtlichen Schritte eingeleitet wurden.
- Wer rechtsschutzversichert ist, sollte zudem seinen Versicherer über die Untersuchungen informieren.
- Kontakt zur Gutachterstelle für Arzthaftungsfragen der Landesärztekammer Sachsen: Schützenhöhe 16, 01099 Dresden, Telefon 0351/82670.