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Macht die Arbeit mit Kindern Sachsens Erzieherinnen krank?

Sachsens Erzieherinnen fallen deutlich länger aus als andere Berufsgruppen. Warum das so ist und was hilft, erklärt der Barmer-Gesundheitsreport.

Von Susanne Plecher
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Wer mit Kindern arbeitet, sitzt auf Kindermöbeln, bückt sich oft, muss mit Lärm und Stress umgehen und wird vor allem in der Erkältungssaison permanent angehustet.
Wer mit Kindern arbeitet, sitzt auf Kindermöbeln, bückt sich oft, muss mit Lärm und Stress umgehen und wird vor allem in der Erkältungssaison permanent angehustet. ©  Symbolbild/pexels.de

Ella ist hingefallen und streckt heulend ihre Arme aus. "Tröste mich", soll das bedeuten. Während ihre Kindergärtnerin sie hochnimmt, umklammert Mia deren Bein und schmiert ihre Rotznase daran ab. Theo zieht inzwischen Max die Buddelschaufel über den Kopf. Alma entdeckt eine Elster und will lautstark wissen, wie der Vogel heißt. Ein fiktives Beispiel, aber es zeigt: Erzieherinnen sind vielfach und oft parallel gefordert, brauchen einen Rundumblick, Einfühlungsvermögen, Konsequenz – und eine stabile Gesundheit. Doch genau daran hapert es, wie der Gesundheitsreport 2021 der Barmer zeigt. Am Donnerstag ist er in Dresden vorgestellt worden.

In diesem Text:

  • Wie lange fehlen Erzieherinnen gesundheitsbedingt pro Jahr?
  • Warum ist der Krankenstand unter den Erzieherinnen so hoch?
  • Was sind die häufigsten Erkrankungen bei Erzieherinnen?
  • Wie steht Sachsen im Vergleich zu anderen Bundesländern da?
  • Woran liegt das?
  • Wie kann die Situation verbessert werden?
  • Inwieweit können Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine eingebunden werden?
  • Die Top Ten der krankmachenden Branchen

Wie lange fehlen Erzieherinnen gesundheitsbedingt pro Jahr?

Die Krankenkasse hat Abrechnungsdaten von mehr als 113.400 erwerbstätigen Sachsen aus dem Jahr 2020 ausgewertet. Etwa 47.000 von ihnen arbeiten als Erzieherinnen und Erzieher in Kitas, Vorschulen und Horten, sind Tagesmütter oder Heimerzieher. Durchschnittlich waren sie 30,8 Tage im Jahr krank und zweimal krankgeschrieben. Nur Post- und Paketzusteller sowie Altenpfleger fallen noch länger aus. Über alle Berufe hinweg kommen die Sachsen durchschnittlich auf 19,6 gesundheitsbedingte Fehltage pro Jahr. "Erzieher fehlen zehn Tage mehr – insgesamt einen ganzen Monat – weil sie an der Belastungsgrenze arbeiten", sagte Fabian Magerl, Landesgeschäftsführer der Barmer in Sachsen.

Warum ist der Krankenstand unter den Erzieherinnen so hoch?

Die Arbeit mit Kindern sei fordernd und verantwortungsvoll. "Seit Ausbruch der Corona-Pandemie dürften die Belastungen unter anderem durch die Umsetzung von Hygienekonzepten und Notbetreuungen weiter gestiegen sein", so Magerl. Die Viruserkrankung an sich spielte im Jahr 2020 jedoch kaum eine Rolle, wie die Daten zeigen. Wegen Corona fehlte rein rechnerisch jede Erzieherin nur 0,2 Tage.

Fällt eine Erzieherin aus, steigt die Belastung für das verbleibende Team. Die Kollegen haben weniger Zeit zur Erholung, für Arbeitsschutz und Hygiene. Durch die Überlastung kommt es zu weiteren Ausfällen. "Das resultiert in einem hohen, steigenden Krankenstand. Ein Teufelskreis", sagte der Kassenchef. Hinzu komme, dass viele Erzieherinnen in Teilzeit arbeiten, befristete Arbeitsverträge haben und in den ersten fünf Berufsjahren den Job aufgeben. "Außerdem scheiden viele schon ab 55 Jahren und deutlich vor dem Rentenalter aus, weil sie sich zu belastet fühlen", sagte Uschi Kruse, Landesvorsitzende der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft. Deswegen und weil sie besser vergütet werden möchten und mehr Kollegen haben wollen, haben in dieser Woche sachsenweit Tausende Erzieher gestreikt.

Was sind die häufigsten Erkrankungen bei Erzieherinnen?

Die Covid-19-Diagnosen fließen wie Erkältungskrankheiten, Husten und Schnupfen in die Atemwegserkrankungen ein. Diese schlugen im Schnitt mit 6,1 Fehltagen pro Person zu Buche. Sachsenweit waren es nur drei Tage. Der häufigste Grund für Krankschreibungen waren psychische und Verhaltensstörungen (6,3 Tage) sowie Muskel-Skelett-Erkrankungen (6,2 Tage). Die relevantesten Diagnosen waren Rückenschmerzen, Depressionen und Erkältungen. Sie zählen zu den sogenannten tätigkeitsspezifischen Belastungen. Denn wer mit Kindern arbeitet, sitzt auf Kindermöbeln, bückt sich oft, muss mit Lärm und Stress umgehen und wird vor allem in der Erkältungssaison permanent angehustet.

Wie steht Sachsen im Vergleich zu anderen Bundesländern da?

Wer professionell Kinder betreut und erzieht, fehlt generell häufiger als Menschen mit anderen Berufen. Bundesweit kommen Erzieherinnen durchschnittlich auf 26,5, alle anderen auf 17,9 Fehltage. Sachsen liegt zwar weit darüber, aber es geht noch schlimmer. In Thüringen, Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Berlin sind die Erzieher durchschnittlich noch länger krank, die aus Mecklenburg-Vorpommern nur geringfügig kürzer. Damit liegen alle neuen Bundesländer in der Statistik deutlich über dem Bundesschnitt. Die wenigsten Ausfalltage haben Erzieher in Baden-Württemberg. Sie fehlen 20,7 Tage.

Woran liegt das?

Uschi Kruse begründet das mit der Tradition und den Betreuungsquoten im Osten. "Hier sind viel mehr Kinder zu bilden und zu betreuen, die Kitas haben deutlich länger geöffnet. Aber das wird nicht adäquat mit Personal abgefedert", sagte sie. Tatsächlich gehen 95 Prozent der Drei- bis Sechsjährigen in Sachsen in eine Kita oder zu einer Tagesmutti. In der Krippe kümmert sich laut Kitagesetz eine Erzieherin um fünf Kinder, in der Kita um zwölf Kinder. Im Hort beträgt der Betreuungsschlüssel 0,9 Erzieher auf 20 Kinder. "Das ist nach Mecklenburg-Vorpommern der Zweitschlechteste im Bundesvergleich", sagte Gewerkschafterin Kruse. Hinzu komme, dass reguläre Ausfallzeiten wie Urlaub, Weiterbildung und Krankheit darin nicht einbezogen sind. "Man tut so, als hätten Erzieherinnen keinen Urlaub", sagte sie.

Wie kann die Situation verbessert werden?

"Erzieher leisten eine gesellschaftlich immens wichtige Arbeit. Wir müssen die Belastungen reduzieren, Kraft und Erholung stärken", sagte Magerl. Mittels betrieblichem Gesundheitsmanagement kann das einerseits in den Einrichtungen selbst erfolgen, etwa durch Workshops zur Ernährung oder Bewegung im Erzieheralltag. Die Krankenkassen bieten zudem auch Präventionsprogramme per App wie Meditation und Resilienzstärkung an, die jeder individuell nutzen kann.

Ein Onlineseminar der Barmer zur mentalen Stressbewältigung im Kita-Alltag kann online nachgehört werden. Generell müssten aber die Gruppenstärken reduziert und mehr Kollegen eingestellt werden, so Kruse. Das sei bereits im Koalitionsvertrag verankert und müsse im kommenden Haushalt abgebildet werden. Außerdem sollten die Themen Stress und Belastung schon in der Ausbildung eine Rolle spielen. "Kinder brauchen gesunde, optimistische und fröhliche Erzieher – und die Eltern Verlässlichkeit", sagte Kruse.

Inwieweit können Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine eingebunden werden?

"Wir sollten ihnen die Tür weit öffnen", forderte Uschi Kruse. Denn unter den Geflüchteten seien Lehrerinnen und Erzieherinnen. Sie schnell arbeiten zu lassen, sei allein schon deshalb wichtig, um die geflüchteten ukrainischen Kinder besser aufzufangen und ihnen Sicherheit in der eigenen Sprache zu geben – und mit den steigenden Betreuungszahlen umzugehen. "Wir müssen uns auf das schlechtmöglichste Szenario einstellen."

Die Top Ten der krankmachenden Branchen

26 Berufsgruppen hat die Barmer in ihrem Report ausgewertet. Berufsübergreifend waren die Sachsen im Jahr 2020 genau 19,6 Tage krankgeschrieben.

  • Platz 1: Post- und Zustelldienste – 35,9 Fehltage.
  • Platz 2: Altenpflege – 31,1 Fehltage.Platz 3: Kinderbetreuung und -erziehung – 30,8 Fehltage.
  • Platz 4: Fahrzeugführung im Straßenverkehr – 29,6 Fehltage.
  • Platz 5: Krankenpflege – 29,2 Fehltage.
  • Platz 6: Heilerziehung, Sonderpädagogik – 28,6 Fehltage.
  • Platz 7: Dialogmarketing – 28,3 Tage.
  • Platz 8: Reinigung, Gebäudereinigung – 27,8 Fehltage.
  • Platz 9: Lebensmittelverkauf – 27,2 Fehltage.
  • Platz 10: Metallbearbeitung, Metallbau – 25,7 Fehltage.

Am seltensten krank wurden Hochschullehrer und Forscher (6,3 Tage), Informatiker (9,8 Tage), Ärzte und Zahnärzte (13,9 Tage) sowie Frisöre (15,4 Tage).