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Der Retter der vergessenen Biere

Tilo Jänichen belebt alte Braustile wieder – und ist damit auch außerhalb von Sachsen erfolgreich. Zum Tag des Bieres erzählt von seinem neuesten Projekt.

Von Andreas Rentsch
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Sauer macht lustig: Tilo Jänichen aus Frohburg gehört zu den experimentierfreudigsten Brauern in Sachsen. Sein jüngster Probesud ist eine Lichtenhainer Weisse.
Sauer macht lustig: Tilo Jänichen aus Frohburg gehört zu den experimentierfreudigsten Brauern in Sachsen. Sein jüngster Probesud ist eine Lichtenhainer Weisse. © Anja Jungnickel

Manches Geschmackserlebnis prägt für immer. Bei Tilo Jänichen aus dem sächsischen Frohburg war es kurz nach der Wende ein Besuch im Gasthaus „Löwenthor“, einer Bierkneipe im badischen Gondelsheim. „Mein Schwager hatte mich damals eingeladen“, erinnert sich der 50-Jährige. Dort habe er zum ersten Mal belgische Geuze, Lambic, Kriek und Trappistenbiere gekostet. „Kirschbier hat mir am besten geschmeckt.“ Zurück in der Heimat, habe er sich bald selbst an einem eigenen Sud versucht. „Meine Mutter hatte eine Kneipe, in der Küche dort konnte ich brauen.“

Gut 30 Jahre sind seitdem vergangen. Jänichen arbeitet heute als Steuerberater in Leipzig, seiner Begeisterung für ungewöhnliches Bier frönt er im Nebenerwerb. Branchenkennern dürfte er als einer der Wiederentdecker der Leipziger Gosetradition bekannt sein. Gose gilt als einer der ältesten deutschen Bierstile. Um 1900 herum sei das obergärige Gebräu das meistgetrunkene Bier in Leipzig gewesen, sagt Jänichen. Mitte des 20. Jahrhunderts geriet der Braustil allerdings in Vergessenheit, ehe er nach der Wende ein Comeback erlebte.

Das von Jänichen seit 1999 unter der Bezeichnung „Original Ritterguts Gose“ vermarktete Bier wird dezent mit Salz und Koriander gewürzt, entspricht also nicht dem Reinheitsgebot von 1516, wonach nur Wasser, Hopfen und Malz erlaubt sind. Für den säuerlichen Geschmack sorgen Milchsäurebakterien, die während der Gärung zugegeben werden.

Was für den Pilstrinker arg gewöhnungsbedürftig klingt, findet anderswo auf der Welt begeisterte Abnehmer. Vor allem unter US-Brauern sind saure Biere wie die Gose schon seit Jahren schwer angesagt. Die Lust an neuen Sorten und Variationen sei bei ausländischen Craft-Beer-Machern und Konsumenten momentan viel stärker ausgeprägt als hierzulande, sagt Jänichen. Inzwischen existiert sogar eine Veranstaltung, die sich ausschließlich sogenannten Sour Ales widmet: das „Arrogant Sour Festival“. 2022 trifft sich die Szene vom 28. bis 30. Mai im italienischen Reggio nell’Emilia.

Auch Bier aus Sachsen wird auf der Veranstaltung vertreten sein, sogar ein ganz besonderes. Bei seiner Lichtenhainer Weisse handele es sich um einen fast vergessenen Bierstil mit Thüringer Wurzeln, sagt Tilo Jänichen. „Lichtenhain war eines der Bierdörfer rings um Jena.“ Im 19. Jahrhundert seien die Studenten aus der Stadt regelmäßig ins Umland gewandert, um in den dortigen Gasthäusern ihre Gelage abzuhalten. Das in Lichtenhain kredenzte, obergärige und leicht säuerliche Bier bestach dabei mit einer leichten Rauchnote. „Die stammt vom geräucherten Malz, welches das Bier vollmundiger erscheinen lässt, als es ist“, erklärt Jänichen. Wie das schmeckt? „Als ob Sie in ein Stück Räucherschinken beißen, sich die Finger ablecken und dann einen Schluck Bier nehmen.“

Seinen ersten Probesud hat der Teilzeitbrauer in Flaschen abgefüllt und an ausgewählte Braumeister, Biersommeliers und andere Experten verschickt. Das Feedback der Tester fiel recht positiv aus. „Sehr spritzig. Ein sehr schönes Sommerbier“, urteilte einer der Adressaten. Und ein anderer schrieb: „Angenehm frische Säure, zurückhaltend, nicht zu kräftig. Die rauchigen Noten sind gut eingebunden, harmonisch und runden das Bier ab. Gut trinkbar. So stelle ich mir ein Lichtenhainer nach den alten Beschreibungen vor.“

Vom allerersten richtigen Sud wird nur ein kleiner Teil auf dem deutschen Markt landen. 85 der 100 Hektoliter gehen in den Export – in die Vereinigten Staaten, nach Italien, Finnland, Estland, Südkorea, Tschechien und Polen. Parallel dazu will Tilo Jänichen auch die Thüringer von seiner kulinarischen Wiederentdeckung überzeugen. Kontakte sind bereits geknüpft. „Über Facebook hat mich der Bürgermeister von Lichtenhain angeschrieben. Der ist übrigens auch Hobbybrauer.“ Zudem habe der Inhaber einer Hausbrauerei im benachbarten Ziegenhain Interesse signalisiert.

Doch auch Skepsis sei ihm begegnet, gibt Jänichen zu. Sein Wunschpartner im Handel habe ihm lang und breit erklärt, warum er nicht an einen Erfolg des Biers glaube. „Ich habe ihm dann ganz kurz geantwortet, dass Anfang der 1990er-Jahre auch niemand in Leipzig an eine Renaissance der Gose geglaubt hat. Und heute haben wir 120 Gaststätten, alle Großhändler und noch mal 70 Einzelhändler in der Region, die Gose verkaufen.“

Die verbliebenen Zweifel seien wohl durch Zusendung einer Kostprobe ausgeräumt worden, sagt Jänichen und grinst. „Danach hat er mir zurückgeschrieben: ,Ich bin absolut überzeugt von diesem Bier.‘“ Verkauft wird Lichtenhainer künftig exklusiv über einen Onlineshop und in der regionalen Szene-Gastronomie. „Ich würde dieses Bier gern wieder im Raum Jena beheimaten“, sagt Jänichen. „Es wäre schade, wenn so etwas ausstirbt.“

Wer mehr zu vergessenen Braustilen wissen will, landet über kurz oder lang bei Sebastian Sauer und dessen Projekt Freigeist Bierkultur. Seit dessen Gründung im Jahr 2009 sei er an 300 Suden unterschiedlichster Braustile beteiligt gewesen, schätzt der 35-jährige Rheinländer. Viele dieser Biere, etwa das Grätzer, die Braunschweiger Mumme, das Grut- oder Adambier, dürften selbst Kennern kein Begriff sein. Mangels technischer Analysen sei ein Nachbrauen der teilweise jahrhundertealten Sorten auch gar nicht so einfach, sagt Sauer. Dazu kommt die Beschaffung der Zutaten, die zur Herausforderung werden kann. Für das hopfenfreie Grutbier beispielsweise werden die Blüten des Gagelstrauchs benötigt. Die in Mooren und Feuchtheiden vorkommende Pflanze ist jedoch selten geworden und steht unter strengem Naturschutz. Weitere mögliche Zutaten für die als „Grut“ bezeichnete würzende Kräutermischung können etwa Wacholder, Ingwer, Salbei, Fenchel, Bitterdistel oder Schafgarbe sein.

Andererseits bieten fehlende Überlieferungen auch Gestaltungsspielräume. So kam Abraxxxas, Sauers Neuinterpretation einer Lichtenhainer Weisse aus dem Jahr 2009, auf einen Alkoholgehalt von sechs Volumenprozent. Die Weisse nach althergebrachter Machart dürfte weit weniger kräftig gewesen sein. Anderenfalls hätten die Jenaer Verbindungsstudenten wohl keine dreitägigen Trinkgelage durchgehalten, sagt Jänichen. Sein Lichtenhainer, das übrigens in der Chemnitzer Familienbrauerei Bergt hergestellt und abgefüllt wird, liegt mit 4,3 Prozent Alkohol deutlich näher am historischen Original.

Starkes, dunkles Bier aus dem 15. Jahrhundert, das wohl eine Vielfalt an Kräutern und Gewürzen enthielt. Gebraut wurde es als etwas weniger alkoholhaltige Stadtmumme für den Verkauf in der Heimat und als stärkere Schiffsmumme, die nach Indien oder England verschifft wurde.
Starkes, dunkles Bier aus dem 15. Jahrhundert, das wohl eine Vielfalt an Kräutern und Gewürzen enthielt. Gebraut wurde es als etwas weniger alkoholhaltige Stadtmumme für den Verkauf in der Heimat und als stärkere Schiffsmumme, die nach Indien oder England verschifft wurde. © bierothek.de
Eine alte Biersorte aus Danzig (Gdansk), zu der es kaum spezifische Angaben gibt – außer dass es ein sehr dunkles, öliges, schweres Bier gewesen sei. Zur Charakteristik gehörte außerdem, dass sich bei der offenen Gärung in den Bottichen eine dicke weiß-graue Schimmelschicht bildete.
Eine alte Biersorte aus Danzig (Gdansk), zu der es kaum spezifische Angaben gibt – außer dass es ein sehr dunkles, öliges, schweres Bier gewesen sei. Zur Charakteristik gehörte außerdem, dass sich bei der offenen Gärung in den Bottichen eine dicke weiß-graue Schimmelschicht bildete. © bierothek.de
Ein 1993 ausgestorbener Bierstil aus dem einst preußischen Grätz (heute: Grodzisk Wielkopolski), zu dessen Besonderheiten das verwendete Malz gehört. In die Maische kam ausschließlich über Eichenholz geräuchertes Weizenmalz.
Ein 1993 ausgestorbener Bierstil aus dem einst preußischen Grätz (heute: Grodzisk Wielkopolski), zu dessen Besonderheiten das verwendete Malz gehört. In die Maische kam ausschließlich über Eichenholz geräuchertes Weizenmalz. © craftbeer-shop.com
Bier wurde nicht immer nur mit Hopfen gewürzt. Für Aromatik und Bitterkeit sorgten im Mittelalter auch Kräutermixturen, die Grut. Die Mischungen variierten regional, ebenso der Alkoholgehalt. Zu den modernen Grutbieren zählt unter anderem das No Hops Today, ein Collab Brew von Freigeist Bierkultur und Matthias Richter vom Bayerischen Bahnhof von Leipzig.
Bier wurde nicht immer nur mit Hopfen gewürzt. Für Aromatik und Bitterkeit sorgten im Mittelalter auch Kräutermixturen, die Grut. Die Mischungen variierten regional, ebenso der Alkoholgehalt. Zu den modernen Grutbieren zählt unter anderem das No Hops Today, ein Collab Brew von Freigeist Bierkultur und Matthias Richter vom Bayerischen Bahnhof von Leipzig. © alehub.de
Für diesen Bierstil fungierte der Braumeister Cord Broyhan aus Hannover als Namenspate. Broyhan gilt als Vorläufer der Berliner Weisse und wurde seinerzeit wohl mit 100 Prozent Weizenmalz gebraut, was das Gebräu sehr hell machte und eine gewisse Weinartigkeit verlieh.
Für diesen Bierstil fungierte der Braumeister Cord Broyhan aus Hannover als Namenspate. Broyhan gilt als Vorläufer der Berliner Weisse und wurde seinerzeit wohl mit 100 Prozent Weizenmalz gebraut, was das Gebräu sehr hell machte und eine gewisse Weinartigkeit verlieh. © das-freie.de
Ein in den 1960ern ausgestorbener Altbier-Stil, der in Dortmund gebraut wurde, ziemlich stark war und eine säuerliche Komponente aufwies. Ende des 19. Jahrhunderts gab es dunkles, malziges Adambier mit zehn Prozent Alkohol, andere Quellen aus derselben Zeit berichten dagegen von nur fünf Prozent Alkohol.
Ein in den 1960ern ausgestorbener Altbier-Stil, der in Dortmund gebraut wurde, ziemlich stark war und eine säuerliche Komponente aufwies. Ende des 19. Jahrhunderts gab es dunkles, malziges Adambier mit zehn Prozent Alkohol, andere Quellen aus derselben Zeit berichten dagegen von nur fünf Prozent Alkohol. © bierothek.de

Auf die Frage nach seinem nächsten Bierexperiment winkt der 50-Jährige spontan ab. „Eigentlich wollte ich mal kürzertreten, statt immer noch einen draufzulegen.“ Zumal die Situation der Brauwirtschaft momentan nicht dazu angetan ist, weitere geschäftliche Risiken einzugehen. Damit ist nicht nur der schwächelnde Bierabsatz seit Beginn der Corona-Krise gemeint: „Wir bekommen jetzt schon kaum noch Leergut, der Preis von Kartons hat sich verdreifacht, Etiketten werden zum Tagespreis mit 30 Prozent Energiepreisaufschlag verkauft“, sagt Jänichen. Lieferengpässe hätten ihm kürzlich sogar einen 15.000 Euro schweren Exportauftrag nach Kanada vermasselt.

Was nicht heißt, dass dem umtriebigen Bier-Liebhaber die Ideen ausgehen würden. „Wenn ich wieder was mache, dann im Bereich Sauerbiere“, kündigt er an. Von historisch korrekter Berliner Weisse wolle er aber die Finger lassen. „Da gibt es mit Brlo, Lemke und der Schneeeule-Brauerei schon drei Brauereien, die das gut machen.“

Und diese handwerkliche Qualität hat ihren Preis. Wer über Onlinehändler wie alehub.de, craftbeer-shop.com oder bierothek.de ordert, zahlt für eine 0,33-Liter-Flasche Schneeeulen-Weisse zwischen 3,69 und 4,25 Euro. Sondersude in Dreiviertelliterflaschen kosten auch mal das Fünffache. Dafür seien saure Biere aber lange haltbar, sagt Tilo Jänichen. „Ich habe mal eine Ritterguts-Gose aus den 1940ern getrunken, die noch nicht verdorben war.“ Seine Gose kommt auf eine Mindesthaltbarkeit von etwa neun Monaten. Preislich schlägt der halbe Liter mit 1,50 bis 2,50 Euro zu Buche, je nachdem, auf welchem Weg das Bier zum Kunden kommt. Auf ähnlichem Niveau wird sich die Lichtenhainer Weisse bewegen. Durchschnittlich 15 Prozent teurer sind Spezialgosen wie der „Bärentöter“, ein mit Zimt und Orangenschalen verfeinertes Crossover aus Gose und Bockbier. „Wenn ich die ins Ausland verkaufe, kostet die Flasche vor Ort zwischen sechs und neun US-Dollar.“

Trinkt einer wie er eigentlich noch „normales“ Bier? Ja, sagt Jänichen. „Ich versuche aber immer, etwas aus einer Handwerksbrauerei zu bekommen. Gern auch Pils.“ Einen Geheimtipp in der Leipziger Kneipenszene hat er in dem Zusammenhang ebenfalls parat: „Cliff’s Brauwerk“, eine 2015 gegründete Mikrobrauerei im Waldstraßenviertel, sei einen Besuch wert. Tatsächlich ist der Ausschank in einem Gewölbekeller manchmal selbst von Ortskundigen nicht auf Anhieb zu finden. Ein Werbeschild an der Fassade gibt es nicht, geöffnet ist nur an fünf Werktagen von 18 bis 22 Uhr. Trotzdem fänden selbst internationale Gäste zu ihm, sagt Inhaber Cliff Schönemann.

Der Tipp für ein ganz besonderes Geschmackserlebnis kommt heutzutage eben oft von Google.