Die Erfindung des Schwarzen Steigers

Wie viel Bier da rein passt? Hans-Joachim Hartmann weiß es nicht genau. Denn getrunken hat er aus diesem Stiefel nie. Trotzdem ist er kaputtgegangen. Man sieht noch die Risse zwischen den geklebten Scherben. Wegschmeißen kommt nicht infrage. Der Stiefel ist Hans-Joachim Hartmanns Andenken an das wohl wichtigste Ereignis seines Berufslebens: die Erfindung des Schwarzen Steigers.
Im Antrunk hopfig-spritzig, im Abgang malzig-süßlich, so beschreiben Bierfans auf einschlägigen Internetportalen ihre Begegnung mit dem nachtschwarzen Gebräu, das, bei Lichte besehen, gar nicht so nachtschwarz ist, sondern leicht rötlich schimmert. Ein mildes, frisches Bier ohne Extravaganzen, unkompliziert und gut zu trinken, lautet das Urteil. Ein Charakter, der zu Freital passt, wo der Steiger 1984 das Licht der Welt erblickte.
Der Doktor empfiehlt Gerlachs Weizenbier
Die Brauerei stand in der Ortschaft Döhlen, auf dem Gelände des Kammerguts, gleich bei der Lutherkirche. 1842 wird sie gegründet und bald darauf von der Unternehmerfamilie Gerlach übernommen. Die Gerlachs erweitern die Braustätte und führen die durch neue Kühlverfahren ermöglichten untergärigen Lagerbiere ein. Spezialitäten der Firma sind das nach Münchner Art hergestellte Ritterbräu und das Deutsche Pilsner, außerdem Weizenbier, dessen Genuss laut zeitgenössischer Berichte sogar ärztlich empfohlen wird.

Beinahe neunzig Jahre bleibt die Brauerei in der Obhut der Gerlachs, übersteht Wirtschaftskrisen und Weltkriege. Als das Nazireich endet, wird der Betrieb Volkseigentum. Und das Volk hat Durst. So läuft die Produktion in Freitals einzigem Braubetrieb bald wieder an, jetzt unter dem Namen VEB Brauerei Döhlen-Freital.
Schon als Schuljunge im Gärkeller gearbeitet
Hans-Joachim Hartmann ist mit der Brauerei aufgewachsen. Er wohnte quasi um die Ecke. Schon als Schuljunge arbeitet er während der Ferien im Gärkeller, putzt, schrubbt, rollt Fässer. Allerdings nicht in Döhlen, sondern im späteren Mutterhaus des Betriebs, in der Felsenkellerbrauerei im Plauenschen Grund. 1964 beginnt er dort seine Lehre als Brauer und Mälzer. Er wird Facharbeiter, Brigadier, und 1980 Braumeister.

Um diese Zeit ist der Felsenkeller samt seines Döhlener Zweigs Teil des Getränkekombinats Dresden geworden, eines sozialistischen Konzerns, dem die Fachkräfte fehlen. Dieser Mangel bedroht die Qualität. Die Freitaler Biere, so entsinnt sich Hans-Joachim Hartmann, überdauerten oft keine Woche, kippten manchmal schon nach vier Tagen um. Reklamiertes „Rückbier“ musste in Größenordnungen weggekippt werden. „Sie brauchten jemanden in Freital“, sagt Hartmann. Und da er Freitaler war, schickten sie ihn.
Brauer bekommen Verstärkung aus Afrika
Geschickt wird bald noch einer: ein kaum 20-jähriger Afrikaner, der Candido Mahoche heißt. Die DDR hat mit seinem Heimatland Mosambik einen Deal gemacht: Ausbildung gegen Arbeitskraft. Er denkt, dass er in die Landwirtschaft kommt. Dann heißt es: Er wird Brauer. Bier ist ihm bis dahin egal. Er hat nur Fußball im Kopf. Doch bald nach seiner Ankunft ändert sich das: „Da habe ich mitbekommen, dass Bier in Deutschland etwas sehr Wichtiges ist.“

Hans-Joachim Hartmann wird Produktionsleiter in Freital. Die Brauerei ist klein, hat um die 25 Leute und lebt von der Substanz. „Es wurde verschwindend wenig neu gemacht“, sagt er. Bier herstellen ist hier noch Muskelarbeit, vom Schleppen der Rohstoffsäcke bis zum Aufladen der bestückten hölzernen Bierkästen. Gebraut wurde mit heißem Wasser und Dampf. „Es war wie bei der Kleinbahn“, sagt Hartmann. „Die Heizer mussten ganz schön ran.“
Dunkle Krönung der Freitaler Braukunst
Obwohl die Arbeit hart ist, die Technik alt, die wenigen Maschinen oft kaputt: In Döhlen entdeckt Candido Mahoche seine Liebe zum Bier. Schroten, maischen, Würze kochen, gären, lagern und filtrieren – alles lernt er von der Pike auf, und mit den eigenen Händen. Er mag es, zuzupacken. Meister Hartmann ist zufrieden mit ihm und den anderen afrikanischen Lehrjungens. „Die waren schwer auf Zack.“

Mit Eröffnung der Großbrauerei in Coschütz ergeben sich für den Kleinbetrieb Freital neue Nischen. Ab 1982 wird das „Freitaler Vollbier Dunkel“ produziert. Kurz darauf beginnt die Entwicklung dessen, was die Lokalpresse als „Krönung aller bisherigen Freitaler Braukunst“ ankündigt. Das Lagerbier mit erhöhtem Stammwürzegehalt, stärker gehopft und herber als das Dunkel, soll, in Verehrung der Kohlebergmänner des Döhlener Beckens, Schwarzer Steiger heißen.
Sonderschichten für das neue Bier
Hans-Joachim Hartmann ist Teil des Entwicklerteams. Etwa ein Jahr dauert die Tüftelei. Im Oktober 1984 ist der Steiger fertig – und wird der Renner. Sonderschichten werden gefahren, damit genug von dem neuen Bier auf Lager ist für die Tankwagen, die morgens, noch vor der Flaschenproduktion, anrollen, um es ins Erzgebirge und in die Lausitz zu bringen. Auch im Altmarktkeller von Dresden trinkt man jetzt Schwarzen Steiger.

Zum Dank erhält das Neuererkollektiv Lausitzer Keramik: Bierstiefel samt Becherset. Auch Hans-Joachim Hartmann kriegt ein Exemplar. Den Erfolg des Schwarzbiers kann er, ein überzeugter Pilstrinker, nicht wirklich erklären. Verglichen mit anderen Sorten, etwa dem Köstritzer aus Thüringen, machte der Steiger eben den feinen Unterschied. Die Leute mochten das. „Aber fragen Sie mich bloß nicht warum.“
Das Ende der DDR überdauert die Brauerei nur kurz: 1991 muss der Betrieb schließen. Seine Reste verschwinden in den 2000ern. Der Steiger aber überlebt. Der einstige Lehrling Candido Mahoche, jetzt 62 Jahre alt, produziert ihn bis heute, als Braumeister bei der Feldschlösschen AG in Coschütz. Dass er es so weit gebracht hat, verdankt er auch seinen Döhlener Jahren. „Es war eine sehr gute Zeit für mich“, sagt er. „So eine Lehre wie damals, die gibt es nie wieder.“
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