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Neues Intensivnetzwerk für kritisch kranke Kinder in Sachsen

Ein intensivmedizinischer Transport von Kindern in eine andere Klinik wird von den Kassen nicht bezahlt. Der Freistaat fördert ein Projekt, damit die Uniklinik helfen kann.

Von Stephanie Wesely
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Große Freude beim Team des Kinder-Tele-Intensivnetzwerk Sachsen, Professor Sebastian Brenner (rechts) und Katja Jackisch (hinten), dass es Gretje wieder so gut geht. Ihre Mutter Kristina Beck (links) ist allen sehr dankbar.
Große Freude beim Team des Kinder-Tele-Intensivnetzwerk Sachsen, Professor Sebastian Brenner (rechts) und Katja Jackisch (hinten), dass es Gretje wieder so gut geht. Ihre Mutter Kristina Beck (links) ist allen sehr dankbar. © Foto: SZ/Veit Hengst

Den 17. Februar des vergangenen Jahres werden Kristina und Andreas Beck aus Dresden wohl nie vergessen. Mit ihren drei Kindern verbrachten sie im Erzgebirge ihren Winterurlaub. „Ich war mit Gretje auf dem Weg zum Skikurs, als sie beim Überqueren der Straße plötzlich von einem Auto erfasst wurde. Ich war völlig geschockt. Es ging alles so schnell, wir hatten das Auto nicht kommen sehen“, sagt die Mutter der damals Sechsjährigen. Gretjes linker Unterschenkel war kompliziert gebrochen, und beim Aufprall hat sich das Mädchen die Zunge fast komplett abgebissen. Und die Schwellung im Mund behinderte die Atmung. Der Rettungswagen kam sehr schnell und Gretje wurde in die Notaufnahme des Erzgebirgsklinikums Annaberg gebracht. „Es war die schlimmste Situation, die wir je erlebt haben, ein Albtraum“, sagt Gretjes Vater. Er blieb bei den beiden Kindern, während Kristina Beck mit ins Krankenhaus fuhr. „Ich wusste gar nicht, wie ich das den beiden erklären sollte, war ja selbst total geschockt.“ Die ersten Untersuchungen gaben den Eltern aber Hoffnung. Das Rückenmark war unverletzt, auch der Kopf, denn zum Glück hatte Gretje bereits ihren Skihelm auf.

Erwachsenen-ITS nur zweitbeste Lösung

Die Sechsjährige wurde ins künstliche Koma versetzt, intubiert, beatmet und operiert. Doch da es in Annaberg keine Kinder-Intensivstation gibt, musste sie anschließend auf der Intensivstation für Erwachsene versorgt werden. „Kein Idealzustand, denn kritisch kranke Kinder brauchen eine andere medizinische Betreuung als Erwachsene“, sagt Professor Sebastian Brenner, Leiter des Bereichs Kinder-Intensivmedizin am Uniklinikum Dresden. Da Gretje aus dem Koma geholt und der Tubus entfernt werden sollte, war eine Verlegung in eine Klinik nötig, die auf intensivmedizinische Versorgung von Kindern spezialisiert ist. Denn es bestand das Risiko, dass die Schwellung der Zunge weiter fortschreitet und die Atmung behindert. Auch weitere Fachdisziplinen, wie die Kinder-Chirurgie und die Kinder-Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie, waren für die Behandlung des Mädchens notwendig. Denn nicht nur die Größenverhältnisse sind bei Kindern anders als bei Erwachsenen. Auch das Legen von Infusionszugängen oder die Dosierung von Medikamenten sind Professor Brenner zufolge Herausforderungen, für die Erwachsenen-Intensivmediziner nicht ausgebildet sind. Hinzu komme die Betreuung der geschockten Eltern der kleinen Patienten.

Ein stürmischer Tag im Februar 2022 in Annaberg-Buchholz, als Gretje schwer verletzt per Hubschrauber abgeholt wurde.
Ein stürmischer Tag im Februar 2022 in Annaberg-Buchholz, als Gretje schwer verletzt per Hubschrauber abgeholt wurde. © Sebastian Brenner UKD

Projektstart war ein Glücksfall

Das Problem: Ein sogenannter Sekundärtransport von einer Klinik in die andere wird von den Kassen derzeit nur für Neugeborene und für Erwachsene vergütet, für Kinder wie Gretje nicht. Es fehlt auch an spezifischen Transportmöglichkeiten für kritisch kranke und beatmete Kinder. Doch das Mädchen hatte Glück im Unglück: Das Uniklinikum Dresden startete einen Monat vor ihrem Unfall mit einem Projekt zum Aufbau eines Kinder-Tele-Intensivnetzwerks für Sachsen, das vom Freistaat mit 2,5 Millionen Euro unterstützt wird. „Bis Dezember 2024 ist das Projekt befristet. Wir wollen den Kassen und dem Freistaat bis dahin wissenschaftliche Daten dafür liefern, dass solch ein Netzwerk die Versorgung kritisch kranker Kinder entscheidend verbessert“, sagt Sebastian Brenner, denn diese Kinder hätten ein erhöhtes Risiko, an den Folgen solcher Ereignisse zu sterben.

Per Telemedizin nah am Patienten

An diesem in Deutschland einmaligen Projekt sind derzeit 15 sächsische Partnerkinderkliniken beteiligt. Die Ärzte dort haben rund um die Uhr die Möglichkeit, in Notfällen wie dem von Gretje das neue Netzwerk am Uniklinikum Dresden anzurufen. „Per Telemedizin können wir uns ein Bild vom Zustand des Patienten machen“, erklärt der Kinder-Intensivmediziner. Zudem sei es möglich, auf Röntgen-, CT- oder MRT-Aufnahmen zuzugreifen. „Gemeinsam mit den behandelnden Ärzten besprechen wir, ob wir das Kind abholen müssen. Manchmal genügen auch Therapieempfehlungen, um das Kind zu stabilisieren“, sagt er.

Gretje wurde aufgrund der großen Entfernung per Hubschrauber transportiert. „Zu dieser Zeit herrschte Sturm in Sachsen. Wir hatten nur ein kleines Zeitfenster, in dem der Flug möglich war“, sagt ihre Mutter. Das Besondere an solchen Transporten ist, dass ein Kinder-Intensivmediziner und eine Kinder-Intensivpflegekraft die kleinen Patienten begleiten. „Dazu wären wir personell gar nicht in der Lage“, sagt Dr. Ulf Winkler, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Krankenhaus Bautzen, das ebenfalls dem Netzwerk angehört.

Aufarbeitung ging erst zu Hause

Etwa zehn Tage war Gretje im Uniklinikum. Dann durften die Eltern sie nach Hause holen. „Erst jetzt kamen wir dazu, das alles zu verarbeiten“, so der Vater. Die Psychologin des Netzwerks habe ihnen sehr geholfen. Auch bei den Informationen für Gretjes Geschwister. „Wir wussten nicht, was man ihnen sagt, wie man es sagt oder was man besser verschweigt“, sagt Andreas Beck. „Uns hat dieses Angebot sehr geholfen. Nicht auszudenken, wenn das ab 2025 nicht mehr finanzierbar würde.“

Professor Brenner zufolge gab es 84 solcher Transporte im letzten Jahr. „Da Kinder ja größtenteils gesund sind, ist die Versorgungslücke bei den Krankenkassen bislang nichts ins Gewicht gefallen. Für uns ist die Vorhaltung einer Transportmöglichkeit für schwer kranke Kinder mit hohen Kosten verbunden.“ Die Finanzierung des Netzwerks über die Projektlaufzeit hinaus müsse daher mit den Kostenträgern besprochen werden.

Hinzu komme, dass eine Verbesserung der medizinischen Behandlungsqualität eben schwer zu messen sei. Doch das will man mit den erhobenen Daten nun möglich machen. Wenn ab 2025 eine Finanzierung steht, könnten Kinder aus allen 31 sächsischen Kinderkliniken in Notfällen zu Spezialisten für Kinder-Intensivmedizin transportiert werden. Auch der damit verbundene Ausbau der Telemedizin erleichtere künftig den Austausch und die Unterstützung untereinander.

Mulmiges Gefühl

Bei einer Nachuntersuchung letzte Woche – knapp ein Jahr nach dem Unfall – nutzen Gretje und ihre Eltern die Möglichkeit, sich den Hubschrauberlandeplatz und das Notfall-Equipment, das ihnen damals so geholfen hat, noch einmal anzuschauen. „Es ist ein mulmiges Gefühl, zugleich aber auch eine große Dankbarkeit, die wir empfinden.“

Gretje ist wieder kerngesund und hat keine Einschränkungen mehr. Sie kann ohne Probleme laufen, essen und sprechen. Doch die Eltern reden noch oft über den Unfall. „Ich mache mir immer noch Vorwürfe, dass ich nicht rechtzeitig reagieren konnte“, so ihre Mutter. „Ich bin auch ängstlicher geworden. Gretje nicht, für sie ist alles wie vorher – zum Glück.“