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Wer über 60 ist, soll den Impfstoff gegen Grippe nicht mehr wählen dürfen

Für Ältere gibt es einen stärkeren Grippeimpfstoff. Nur den bezahlt die Kasse. Das sorgt für Kritik – auch wegen möglicher Nebenwirkungen.

Von Stephanie Wesely
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Die Grippeimpfung ist ein wichtiger Schutz – vor allem für Ältere. Doch sie haben jetzt weniger Mitspracherecht.
Die Grippeimpfung ist ein wichtiger Schutz – vor allem für Ältere. Doch sie haben jetzt weniger Mitspracherecht. © dpa

Ärzte in Sachsen bestellen derzeit die Grippeimpfstoffe für den Impfstart im September. Vier Hersteller bieten neun Präparate für Deutschland an, alle sind für Erwachsene geeignet. Doch für Über-60-Jährige dürfen Ärzte dann erstmals nur noch einen bei der Kasse abrechnen.

Warum dürfen Ärzte bei Älteren nicht alle verfügbaren Impfstoffe nutzen?

Das hat der Gemeinsame Bundesausschuss beschlossen. Demnach dürfen Über-60-Jährige nur noch mit dem wirkverstärkten Impfstoff Efluelda von Sanofi geimpft werden. Er ist damit der einzige in Deutschland zugelassene Kassenimpfstoff für diese Altersgruppe, sagt Dr. Torben Ostendorf, Vorsitzender der sächsischen Hausärzte. „Der Hersteller Sanofi hat den Grippeimpfstoff Efluelda mit mehr Wirkstoff entwickelt, weil das Immunsystem älterer Menschen schwächer ist“, so Dr. Udo Junker, Hausarzt in Plauen und Theuma im Vogtlandkreis.

Was unterscheidet Efluelda von anderen Grippeimpfstoffen?

Der Impfstoff Efluelda enthält die vierfache Antigenmenge im Vergleich zu herkömmlichen Impfstoffen, so Ostendorf. „Ältere Menschen sprechen in der Regel nicht so gut auf die geringer dosierten Impfstoffe an, weil ihr Immunsystem mit zunehmendem Alter nachlässt“, sagt er. Die erhöhte Wirkstoffmenge soll bei dieser Altersgruppe eine bessere Immunantwort zur Folge haben.

Wie sehen die Ärzte diesen Beschluss?

Nicht alle sind damit einverstanden. Auch der Hausarzt Udo Junker nicht. Er spricht von einer Entwicklung, die Vertrauen verspiele und medizinisch falsch sei, zusätzlich werde Geld verbrannt. Denn der geboosterte Impfstoff habe auch eine Kehrseite: „Die Nebenwirkungen sind heftiger, Fieber zum Beispiel, Übelkeit, zwei Tage Kopfweh und ein schmerzender Oberarm. Auf jeden Fall geht es mehr Leuten schlecht nach der Schutzimpfung“, sagt er. Der Hausarzt befürchtet nach eigenen Worten, dass die Zahl älterer Menschen sinkt, sich gegen Grippe impfen lassen, „weil sie von den Befürchtungen gehört oder bereits die Nebenwirkungen erlitten haben.“

Ingrid Dänschel, Hausärztin im mittelsächsischen Lunzenau, sieht die Verpflichtung, Ältere nur mit dem geboosterten Impfstoff zu schützen, eher positiv. „In den letzten Jahren haben mich meine Patienten immer gefragt, ob sie den guten Impfstoff bekommen können. Gemeint war der wirkverstärkte. Doch aus Kostengründen und aufgrund der Liefersituation konnten wir dem Wunsch nicht immer entsprechen“, sagt sie.

Welche Nebenwirkungen wurden bisher beobachtet?

Dr. Torben Ostendorf, der auch als Hausarzt in Leipzig praktiziert, kann die Beobachtungen von Udo Junker nicht teilen. „Wir haben in der letzten Saison keine solchen schweren Nebenwirkungen gesehen.“ Leichtes Fieber, Unwohlsein und auch mal ein schmerzender Arm seien aber normale Impfreaktionen, die es nicht nur beim Grippeschutz gibt. „Eigentlich sollte man sich sogar darüber freuen, weil es zeigt, dass sich das Immunsystem mit dem Impfstoff auseinandersetzt, also dass der Impfstoff wirkt.“ Der Impftermin lasse sich auch meist so planen, dass man sich danach für ein paar Tage etwas mehr Ruhe gönnen könne. Gegen Fieber und Kopfschmerzen helfe auch eine Tablette, zum Beispiel Paracetamol. Nach ein paar Tagen sei das meist überstanden, so Ostendorf.

Gibt es Untersuchungen zur Wirksamkeit des Senioren-Impfstoffs?

Das „Arznei-Telegramm“ vom März 2021 informiert über Studien, wonach Hochdosis-Impfstoffe etwa 15 Prozent besser gegen Grippe schützen. In einer durchschnittlichen Saison mit bisher üblichen Impfquoten könnten deutschlandweit rund 23.000 zusätzliche grippebedingte Arztbesuche, 300 Krankenhauseinweisungen und 160 Todesfälle verhindert werden. G-BA-Mitglied Katrin Maag bewertet den Zusatznutzen auf Nachfrage als eher nicht so groß. Hausarzt Udo Junker macht das einem Beispiel deutlich: „Wenn in einem fiktiven Pflegeheim mit 200 Bewohnern die Hälfte Grippeschutz hat, würden von den 100 Ungeimpften 20 an Grippe erkranken – von denen müssen acht ins Krankenhaus. Von den 100 „Normal“-Grippeschutz-Geimpften würden nur zwölf erkranken, fünf kämen ins Krankenhaus. Bei der Verwendung des geboosterten Impfstoffs Efluelda erkrankten elf Geimpfte – vier davon müssten in die Klinik.“

In den Kosten unterschieden sich die Impfstoffe allerdings stärker: So koste eine Grippe-Impfdosis ihm zufolge zwischen 11,46 und 20,29 Euro, Efluelda jedoch 43,50 Euro.

Wann dürfen Ältere auf andere Impfstoffe ausweichen?

Wenn der Impfstoff nicht in gewünschter Menge lieferbar ist – was Torben Ostendorf zufolge immer wieder vorkomme –, könnten Ärzte auch einen nicht wirkverstärkten Impfstoff bei der Kasse abrechnen. „Patienten, die Efluelda nicht vertragen haben oder eine gesicherte Allergie gegen Hühnereiweiß haben, können ebenso auf Alternativen ausweichen. Das muss der impfende Arzt dann aber gegenüber der jeweiligen Krankenkasse begründen“, sagt Knut Köhler, Sprecher der Landesärztekammer Sachsen.

Wie viele Menschen haben sich bisher gegen Grippe impfen lassen?

Seit 2020 sinken die Impfquoten in Sachsen. Ließen sich 2020 laut Kassenärztlicher Vereinigung noch knapp 1,2 Millionen Sachsen gegen Grippe impfen, waren es 2022 noch 852.000. Das zeigte sich auch an der zurückliegenden Grippesaison – sie war die zweitschwerste bisher. 30.675 Grippekranke und 127 Grippetote wurden laut Sozialministerium Sachsen zwischen Anfang Oktober 2022 und Ende April 2023 gemeldet. Übertroffen wurden die Werte bislang nur in der Saison 2017/18 mit fast 48.000 Influenzakranken im Freistaat.

Seniorinnen und Senioren im Alter von über 70 Jahren stellten im letzten Winter etwa elf Prozent der Fälle. Die Verstorbenen waren zwischen 9 und 109 Jahre alt (Altersmedian: 85). Nur drei von ihnen waren gegen Influenza geimpft, wobei die Impfdaten zum Schluss der Grippewelle nicht mehr komplett erfasst wurden. Welcher Impfstoff zum Einsatz kam, ist ebenfalls nicht bekannt.

Wie wichtig ist der Impfschutz gegen Grippe?

Für Hausarztchef Ostendorf gehören Impfungen zu den wichtigsten und wirksamsten präventiven Maßnahmen in der Medizin. „Das gilt auch für die Grippeimpfung“, sagt er. So sinke besonders in den Risikogruppen bei Geimpften die Wahrscheinlichkeit schwerer oder tödlicher Verläufe einer Grippeerkrankung. „Auch wer sich trotz einer Impfung ansteckt, ist besser geschützt. Denn viele Studien zeigen, dass die Erkrankung bei Geimpften milder verläuft als bei Ungeimpften.“

Wer sollte sich gegen Grippe impfen lassen?

Die bundesweit agierende Ständige Impfkommission (STIKO) empfiehlt die Grippe-Impfung für Personen ab 60 Jahre; für Schwangere ab dem zweiten Schwangerschaftsdrittel, bei erhöhter gesundheitlicher Gefährdung auch ab dem ersten Drittel. Außerdem für Bewohner von Alters- oder Pflegeheimen, für Personen mit erhöhter gesundheitlicher Gefährdung durch chronische Krankheiten, zum Beispiel der Atmungsorgane, des Herzens oder des Kreislaufs, der Leber oder der Nieren, ebenso bei Diabetes und anderen Stoffwechselkrankheiten, bei chronischen neurologischen Krankheiten und Immunschwäche. Einen Grippeschutz empfiehlt die STIKO auch Personen, die im Haushalt lebende Risikopersonen gefährden können, etwa Pflegekräfte und medizinisches Personal.

Die Sächsische Impfkommission differenziert nicht so stark. Sie empfiehlt eine Influenza-Impfung allen Personen ab dem zweiten Lebensjahr.

Mitarbeit: Uwe Faerber