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Lasst uns endlich ehrlich über Gesundheit reden!

Überlastete Kinderkliniken und Ärzte sind nur Symptome. Unser Gesundheitssystem ist chronisch krank. Eine Heilung ist nicht ohne Schmerzen möglich.

Von Katrin Saft
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Unser Gesundheitssystem ist chronisch krank, kommentiert Katrin Saft.
Unser Gesundheitssystem ist chronisch krank, kommentiert Katrin Saft. © Ronald Bonß/SZ

Meine Kollegin musste in dieser Woche mit ihrem Sohn zum Arzt und war entsetzt: Schlangen vor der Praxis, fiebernde Kinder, die Stunden warten mussten. Der Doktor völlig überlastet. Ein Bild, das sich derzeit überall in Sachsen bietet – und das nicht einfach so verschwinden wird wie die winterliche Infektionswelle. Denn unser Gesundheitssystem ist chronisch krank.

Egal, wo man hinschaut, es leiden und klagen alle Beteiligten: Patienten, weil sie keinen Facharzt-Termin bekommen oder ein viertel Jahr auf ein MRT warten müssen. Rettungsärzte, die Akutkranke kilometerweit durch die Gegend fahren, weil sie kein freies Bett finden. Krankenhäuser, denen das Geld ausgeht. Niedergelassene Ärzte, die vor lauter Dokumentationspflichten kaum noch Zeit für ihre Patienten haben. Frustriertes Pflegepersonal, weil es zwischen Schichten und Überstunden kein richtiges Privatleben mehr gibt. Was läuft schief in unserem Gesundheitswesen?

Am Geld kann es nicht liegen. Rein finanziell leistet sich Deutschland eines der teuersten Gesundheitssysteme der Welt. Allein die gesetzlichen Krankenkassen geben dieses Jahr 284 Milliarden Euro aus – fast 75 Milliarden mehr als 2015. Weil die Beitragseinnahmen nicht reichen, hat der Bund 2022 über 28 Milliarden Euro zugeschossen, mehr als je zuvor. Und weil auch das nicht mehr reicht, werden die meisten Krankenkassen noch vor Weihnachten eine Beitragserhöhung für 2023 ankündigen müssen – darunter wahrscheinlich auch die AOK Plus, die jeden zweiten Sachsen versichert. Das schmerzt in einer Zeit, in der die Preise überall steigen. Für viele Menschen ist die Belastungsgrenze jetzt schon überschritten!

Geld wird falsch eingesetzt

Insofern darf die Schlüsselfrage nicht heißen, wo wir schnell noch mehr Geld herbekommen, sondern ob die vorhandenen Mittel richtig eingesetzt werden. Und daran bestehen berechtigte Zweifel.

Die größte Errungenschaft unseres Gesundheitssystems ist das Solidarprinzip: Egal ob alt oder einkommensschwach – jedem wird geholfen. Doch dieses Prinzip ist in den letzten Jahren ausgehöhlt worden. An Stelle der medizinischen Notwendigkeit trat immer mehr das Prinzip der Wirtschaftlichkeit.

Krankenhäuser sind heute in der Regel Unternehmen, deren Betreiber Gewinne erwarten. Mit den Fallpauschalen honoriert der Gesetzgeber Masse statt Klasse. Ein zusätzlicher Zeitaufwand, wie er oft bei chronisch kranken Kindern oder multimorbiden alten Menschen entsteht, wird nicht angemessen vergütet. Der Kostendruck hat nicht nur dazu geführt, dass besser bezahlte Leistungen häufiger erbracht werden als medizinisch nötig. Es ist auch ein ungesunder Wettbewerb zwischen ambulant und stationär entstanden, ein Verteilungskampf zwischen Stadt und Land um die zu wenigen Ärzte und Pfleger. Zu all dem kommt ein wachsender Wust an Regularien. So gibt es allein über 1.300 Fallpauschalen, nach denen Behandlungen abzurechnen sind.

Immer älter, immer teurer

Ein Weiter so kann nicht mehr lange funktionieren. Denn immer weniger Menschen, die in das Gesundheitssystem einzahlen, stehen immer mehr Ältere gegenüber, die immer besser behandelbar sind. Erfreulich, aber auch teuer. Eine Reform, wie sie Gesundheitsminister Karl Lauterbach am Dienstag angekündigt hat, ist deshalb überfällig. Sein Ziel, falsche ökonomische Anreize abzuschaffen, geht in die richtige Richtung. Damit es aber nicht bei einem Reförmchen bleibt, müssen alle Akteure mitziehen. Wirklich alle!

Zum Beispiel das Land Sachsen, das für die Krankenhausplanung und für Investitionen zuständig ist. Mit einem neuen Gesetz hat der Freistaat den Weg für eine Krankenhausreform bereitet. Doch dabei steht er vor zwei Herausforderungen: einerseits den Spagat hinzubekommen zwischen der nötigen Konzentration von Gesundheitsleistungen bei gleichzeitiger wohnortnaher Erreichbarkeit. Und andererseits, das wachsende Personalproblem zu lösen. Letzteres ist nur möglich durch eine Aufwertung des Pflegeberufs, nicht bloß durch warme Worte, sondern durch weniger Belastung und mehr Gehalt.

Viel Potenzial steckt zudem in der Digitalisierung. Die elektronische Patientenakte und das E-Rezept funktionieren nur auf dem Papier. Ein überambitionierter Datenschutz verhindert nützliche Anwendungen. Es braucht mehr Geld für Hard- und Software und mehr Telemedizin, vor allem für die Menschen auf dem Land.

Zu viele Krankenkassen

Auch heikle Themen müssen endlich ehrlich auf den Tisch: Wie lässt sich die Gewinnlust der Pharmaindustrie zügeln? Niemand will die Einheitsversicherung der DDR zurück. Aber wozu benötigen wir gleich 97 gesetzliche Krankenkassen, die alle eigene Verwaltungen unterhalten? Und wie lange wollen wir uns noch leisten, dass sich Besserverdiener privat versichern, während das Solidarsystem allein für Arbeitslose, Rentner oder Studenten aufkommt? Auch der Patient muss sich fragen, ob er das vermeintliche Gratissystem nicht über Gebühr beansprucht.

Der Sohn meiner Kollegin ist fast wieder genesen. Beim Patient Gesundheitssystem wird es leider länger dauern. Denn grundlegende Veränderungen sind mit Eingriffen in Besitzstände verbunden. Und die schmerzen. Insofern braucht es jetzt nicht nur Widerstandskraft gegenüber Lobbyisten, sondern politischen Mut. Mut, die Interessen der Mehrheit über den Erhalt von Privilegien zu stellen.