Chirurginnen sind in Sachsen noch immer die Ausnahme

Nur noch die Kopfbedeckung und den Mund-Nasen-Schutz, dann ist Franziska Vogel bereit für die erste OP dieses Tages in der Klinik für Orthopädie-, Unfall- und Handchirurgie am Klinikum Chemnitz: Eine 85-jährige Patientin mit Oberschenkelhalsbruch. „Heute werden solche Unfallfolgen auch bei hochbetagten Patienten operativ behandelt“, sagt sie. Denn man habe das Ziel, die Mobilität der Patienten schnell wiederherzustellen. Früher waren Oberschenkelhalsbrüche oft ein Grund für Pflegebedürftigkeit.
Bis zum Mittag wird Franziska Vogel heute mit ihrem Team im OP-Saal stehen. Oft operiert sie auch den ganzen Tag. „Das macht mir nichts aus. Im Gegenteil, ich operiere sehr gern, es ist mein Metier“, sagt die 34-jährige Assistenzärztin. Sie ist im vierten Jahr ihrer fünfjährigen Weiterbildung zur Fachärztin für Orthopädie und Unfallchirurgie.
Für Frauen ein eher seltenes Fachgebiet. Von rund 1.300 stationär tätigen Chirurgen in Sachsen, sind 311 weiblich – also knapp ein Viertel. Im ambulanten Bereich zeigt sich ein ähnliches Bild: Knapp 150 der 560 Ärzte sind Frauen. Sachsen bildet da keine Ausnahme, wie die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie ermittelt hat. Über 25 Prozent steigt auch hier der Anteil nicht. In Führungspositionen sei der Abstand sogar noch größer. Hier gebe es nur etwa zehn Prozent Chefinnen. Die Chirurgie ist nach wie vor eine Männerdomäne.
Mehr Behandlungsfehler
Das müsse sich dringend ändern, auch aus Gründen der Patientensicherheit, sagt Professorin Natascha Nüssler, Präsidentin der Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie. Sie beruft sich damit auf eine Studie kanadischer Wissenschaftler, die in der Fachzeitschrift Jama Surgery im Februar dieses Jahres veröffentlicht wurde. Demnach hatten Frauen, die von männlichen Chirurgen operiert wurden, ein um bis zu 15 Prozent höheres Komplikationsrisiko als Frauen, die von Chirurginnen behandelt wurden.
Die Wissenschaftler analysierten rückblickend Behandlungsdaten von rund 1,3 Millionen Erwachsenen aus der kanadischen Provinz Ontario. Diese hatten sich zwischen 2007 und 2019 geplanten oder dringlichen chirurgischen Eingriffen unterzogen. Mehr als 2.900 Chirurgen und Chirurginnen hatten die Operationen durchgeführt. „In der Konstellation männlicher Operateur, weiblicher Patient traten in der Analyse deutlich häufiger postoperative Komplikationen auf“, sagt Professorin Nüssler. Bei anderen Geschlechterkonstellationen fand die Studie kein erhöhtes Komplikationsrisiko. Doch die Analyse ist in Wissenschaftskreisen umstritten, da nicht allein die Geschlechterfrage für das OP-Ergebnis herangezogen werden darf. Andere Parameter seien möglicherweise gar nicht untersucht worden.
Fachliches Können zählt
Der Oberschenkelhalsbruch, der heute bei Franziska Vogel auf dem OP-Programm steht, ist eine der häufigsten im Krankenhaus behandelten Frakturen – rund 150.000 Patienten kommen pro Jahr in Deutschland deshalb in die Klinik. „Die Komplikationsrate bei diesem Eingriff hängt von den Begleiterkrankungen und der sonstigen körperlichen Fitness der älteren Patienten ab – nicht vom Geschlecht des Operateurs“, sagt Dr. Ludwig Schütz, Chefarzt der Klinik. Ausschlaggebend für den Erfolg seien aus seiner Sicht eine gute OP-Vorbereitung und Planung sowie das fachliche Können der Chirurginnen und Chirurgen.
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Am Chemnitzer Klinikum gebe es für die Vorbereitung des Patienten auf die OP und die Planung feste Vorgaben, die ein hohes Maß an Sicherheit garantieren. Ihr fachliches Können stellen die Chirurgen im Rahmen der Facharztausbildung unter Beweis – Männer und Frauen gleichermaßen, „da werden keine Unterschiede gemacht“, sagt Ludwig Schütz.
Gemischte OP-Teams wichtig
Trotz aller Kritik an der kanadischen Studie, so Professorin Natascha Nüssler, sei das Geschlechter-Phänomen auch aus anderen Fächern bekannt. „So haben nach einem Herzinfarkt Patientinnen, die von einem Arzt behandelt werden, ein höheres Sterberisiko als männliche Patienten, die von einer Ärztin behandelt werden“, sagt sie. „Eine Erklärung dafür wäre, dass männliche Ärzte die Schwere von Symptomen ihrer Patientinnen eher unterschätzen oder Frauen Hemmungen haben, gegenüber Männern Schmerzen zu offenbaren.“
Um diese negativen Gendereffekte zu verringern, seien gemischte Ärzteteams ein Ausweg – am OP-Tisch und bei der Visite, so die Chirurgie-Präsidentin. In Ludwig Schütz’s OP-Team am Klinikum Chemnitz arbeiten acht Frauen und 24 Männer. Vor zehn Jahren war das Verhältnis noch eins zu zehn. Die Chirurgie scheint für Frauen zunehmend interessanter und attraktiver zu werden. „Ich habe während meiner Facharztausbildung nie Unterschiede gegenüber den Männern erlebt. Frauen dürfen bei uns genauso oft operieren wie Männer“, sagt Franziska Vogel.
Frauen oft empathischer
Da Ärzte händeringend gesucht werden, kommen die Klinikleitungen den Wünschen ihrer Beschäftigten auch immer stärker nach. Als ihre Kinder geboren wurden, sei es selbstverständlich gewesen, dass sie Teilzeit arbeiten konnte. „Auch männliche Ärzte nehmen jetzt Erziehungsurlaub. Das hat es früher so nicht gegeben“, sagt der Chefarzt.
Doch woher kommt nun der Unterschied in den OP-Ergebnissen, den die Studie kritisiert? „Frauen sind meist empathischer und nehmen sich mehr Zeit für ihre Patienten“, vermutet Franziska Vogel. „Doch am Ende ist das keine Geschlechter-, sondern eine Charakterfrage.“ Wer sich von einer Chirurgin operieren lassen möchte, könne dies im Arztgespräch vor der Operation sagen, erklärt Knut Köhler von der Landesärztekammer Sachsen. Grundsätzlich habe der Patient freie Arztwahl. Doch die OP-Pläne seien meist so streng getaktet, dass der Patient dann auch längere Wartezeiten einplanen müsste, wenn er einen anderen Operateur wünsche.
Zu wenig Chefärztinnen
Um mehr Frauen für die Chirurgie zu gewinnen, brauche es Natascha Nüssler zufolge mehr Vorbilder. Frauen seien in Chefarztposten unterrepräsentiert. Bundesweit sei an Kliniken nur jede zehnte Chefarztstelle mit einer Frau besetzt. In Sachsen liegt der Anteil laut Landesärztekammer bei 25 Prozent.
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„Ich habe mir immer ein Fachgebiet mit großer Bandbreite gewünscht. Und das ist in der Chirurgie gegeben“, sagt Franziska Vogel. Die Arbeit sei zwar körperlich anstrengend und zeitintensiv, doch sie habe das so gewählt. Chirurgie umfasst nicht das Operieren allein, sondern die Kenntnis der Patientengeschichte, um OP-Risiken abzuwägen und die Nachbehandlung. Wenn Patienten, zum Beispiel nach einer Oberschenkelhalsfraktur, wieder erste Schritte gehen könnten, empfinde sie das als tiefe Befriedigung.
Karriere hat viele Facetten
„Ich strebe nicht nach einem Chefarztposten“, sagt Vogel. Das sei aus ihrer Sicht nicht der einzige Karriereweg. Sie schätzt es auch, einen eigenen Verantwortungsbereich zu haben. „Ich bin Beauftragte für Schmerztherapie. Zusammen mit einem Kollegen etablieren wir ein alterstraumatisches Zentrum in unserer Klinik.“ Zudem möchte sie in diesem Jahr ihre Promotion abschließen. „Das füllt mich aus. Denn ich will neben meiner Arbeit, die ich liebe, noch Zeit für meine Familie haben“, sagt Franziska Vogel.
Doch jetzt ist erst einmal höchste Konzentration gefragt, denn die Anästhesisten geben ihr ein Zeichen, dass sie mit der OP beginnen kann.