Es ist wie ein kleines Trostpflaster für die Seele. Wem es nicht gut geht, wer Sorgen hat, dem können kleine Streicheleinheiten seiner Mitmenschen helfen. Eine sanfte Berührung am Arm, ein Streicheln der Mutter über den Kopf ihres Kindes oder ein ermutigendes Streichen über den Rücken. Doch es gibt Menschen, die empfinden all das als weniger angenehm: Migräne-Patienten. Eine neue Dresdner Studie zeigt nun erstmals, dass die Erkrankung einen Einfluss auf die Berührungsempfindlichkeit Betroffener hat. Die Erkenntnisse könnten wichtige Hinweise für die künftige Behandlung von Erkrankten liefern.
Es sind eindringliche Schilderungen, die Hanna Lapp zu hören bekommt. Die junge Wissenschaftlerin ist seit einem Jahr Assistenzärztin an der Klinik und Poliklinik für Neurologie am Dresdner Universitätsklinikum. Immer wieder behandelt sie auch Menschen mit Migräne. „Viele berichten von stark pulsierenden, meist einseitigen Kopfschmerzen“, erzählt die Medizinerin. Während solch einer Attacke sind viele licht- und lärmempfindlich, ziehen sich zurück. „Die meisten können in solchen Situationen nur noch ins Bett zu gehen und schlafen.“ 15 bis 16 Millionen Deutsche leiden an Migräne, vor allem Frauen sind betroffen. Aber auch immer mehr Kinder. „Warum Migräne entsteht, ist jedoch noch nicht geklärt“, sagt Hanna Lapp. Viele Faktoren könnten dabei eine Rolle spielen: die genetischen Voraussetzungen, Stress oder auch hormonelle Gründe. Während die einen Betroffenen nur wenige Tage im Monat Schmerzen verspüren, gibt es andere, die bis zu 20 Tage pro Monat unter Symptomen leiden. „Normal zur Arbeit zu gehen ist dann gar nicht mehr möglich.“
All diese Eindrücke aus der täglichen Arbeit bewegten Hanna Lapp dazu, sich noch intensiver mit dem Thema Migräne zu beschäftigen. An ihrer Klinik gab es bereits ein Projekt, das sich mit dem Thema Berührungen in zwischenmenschlichen Beziehungen auseinandersetzte. Für die Wissenschaftlerin war das ein Ansatzpunkt für die eigene Forschung. „Ich wollte herausfinden, wie Migräne-Erkrankte Berührungen empfinden.“ Erst seit gut 15 Jahren wird das Streicheln wissenschaftlich betrachtet. Im Mittelpunkt stehen dabei ganz spezielle Nervenfasern: die sogenannten C-Fasern. Sie gibt es in der Haut überall dort, wo am Körper auch Haare sind, also beispielsweise nicht an den Fußsohlen oder den Handinnenflächen. Im Gegensatz zu den Nerven für den Tastsinn, die sehr schnell reagieren, tun die C-Fasern das viel langsamer. Die Informationen über langsame Berührungen wie etwa beim Streicheln leiten sie direkt ins Belohnungszentrum des Gehirns weiter. „Schmerzfasern sind ganz ähnlich verschaltet wie die C-Fasern“, erklärt Hanna Lapp. Funktionieren diese Nervenfasern bei Schmerzpatienten also anders?
Mit dem Pinsel an den Unterarm
Für ihre Studie lud Hanna Lapp 50 Patienten der Kopfschmerzambulanz der Uniklinik und 50 gesunde Personen zu einem Test ein. In dessen Rahmen streichelten die Wissenschaftler die Probanten mit einem Pinsel am Unterarm. Auch die Wangen, ein häufiges Schmerzgebiet bei Migräne, wurden auf diese Weise berührt. „Das Ganze passierte an Tagen, an denen die Kopfschmerzpatienten beschwerdefrei waren.“ Die Pinselstriche erfolgten mal langsamer, mal schneller und am Ende auch über einen Zeitraum von einer halben Stunde. „Dabei sahen wir schon, dass sich die Migränepatienten viel schlechter als die gesunden Probanden an diese Art von Berührung gewöhnen konnten.“ Letztlich empfanden sie das Streicheln auch als weniger angenehm. „Migräne beeinflusst also wahrscheinlich die C-taktile Wahrnehmung“, kommt die Wissenschaftlerin zum Schluss. Doch es zeigte sich noch mehr.
Innerhalb der Gruppe der Migräne-Patienten gab es nämlich durchaus Unterschiede. Menschen, die bis zu 15 Migränetage pro Monat erleben, reagierten schlechter auf die Berührungen als Menschen, die unter chronischer Migräne leiden und noch öfter von Attacken betroffen sind. Wie passt das mit Blick auf die Empfindlichkeit der C-taktilen Nervenfasern zusammen? „Wir vermuten, dass das mit den Medikamenten zusammenhängt, die chronisch Erkrankte bekommen“, sagt Hanna Lapp. Daraus ergibt sich eine weitere Spur, der die Forscher jetzt folgen wollen. Im Zentrum ihres Interesses stehen neue Therapeutika, die erst seit Kurzem für Migräne-Patienten zur Verfügung stehen: CGRP-Antikörper, eine Impfung zur Migräne-Vorbeugung.
Impfung mit Antikörpern
Diese Therapieform mittels Antikörper existiert erst seit wenigen Jahren. CGRP ist die Abkürzung für Calcitonin Gene-Related Peptide. Diese Eiweiße werden aus Nervenzellen freigesetzt. Bei der Entstehung von Migräne spielen sie eine wichtige Rolle, sie wirken gefäßerweiternd und unterstützen Entzündungsreaktionen. Und, so zeigten Untersuchungen bereits, während einer Migräne-Attacke ist der CGRP-Wert bei Betroffenen erhöht. Durch die Impfung mit Antikörpern kann der Signalweg der Migräne unterbrochen werden. Angewendet wird diese Art der Therapie in den Fällen, in denen andere medikamentöse Möglichkeiten ausgeschöpft sind.
Weil gerade Migräne-Patienten, die diese Impfung bereits nutzen, beim Berührungs-Test positivere Reaktionen zeigten, ergeben sich nun neue Fragen: Könnte das Eiweiß CGRP womöglich eine noch größere Rolle bei der Entstehung von Migräne spielen als bisher angenommen? Und könnten durch die weitere Erforschung dieses zentralen Botenstoffes womöglich weitere Therapiemöglichkeiten für Migräne-Erkrankte gefunden werden? Hanna Lapp will sich nun genau damit beschäftigen. „Wenn die Spritze die Berührungsempfindlichkeit normalisiert, haben die Antikörper vielleicht auch weitere positive Effekte.“ Schließlich hätte Migräne auch Einfluss auf andere Sinnesorgane. „Unsere bisherigen Ergebnisse werden uns helfen, genau solche Mechanismen noch besser begreifen zu können.“