Der Vorsitzende des Pflegerates Sachsen über mangelnde Wertschätzung nicht nur in Corona-Zeiten, ungenutztes Potential und die Impfpflicht im Gesundheitswesen.
Erschöpfung, Überlastung, Frust: Über keine andere Berufsgruppe wird zurzeit mehr berichtet als über Pflegekräfte. Denn sie spielen in der Corona-Pandemie eine zentrale Rolle. „Wenn sich jetzt nicht schnell etwas tut, sehen wir die pflegerische Versorgung in Sachsen bedroht“, sagt Michael Junge, Vorsitzender des Pflegerates Sachsen.
Herr Junge, was ist eigentlich so schön am Pflegeberuf?
Der Pflegeberuf ist herausfordernd und erfüllend zugleich. Für mich ist es einer der schönsten, den unsere Gesellschaft zu vergeben hat. Er bietet wie kaum eine andere Tätigkeit die Chance, Menschen ganz unmittelbar in existenziellen Situationen zu begleiten.
Warum schmeißen dann immer mehr Pfleger diesen schönen Job hin?
Sie tun das nicht wegen des Berufs, den sie immer noch lieben, sondern wegen der Arbeitsbedingungen. Sie spüren, dass sie nicht mehr das leisten können, was sie gern leisten wollen. Das belastet ungemein, übrigens nicht erst seit Corona. Auch vorher schon haben sich Pflegende reihenweise aus dem Beruf verabschiedet. Sie starten oft engagiert und professionell in den Beruf und finden sich dann schnell in einem bürokratischen und kontrollierten Umfeld wieder, in dem ihre hohe Kompetenz nicht vollständig genutzt wird.
Gegenwärtig schauen alle auf die Krankenhäuser. Inwiefern hat Corona die Probleme dort noch verschärft?
Die Versorgung von Covid-Patienten ist aufwendiger. Die Mitarbeiter stecken im Ganzkörperanzug, tragen Maske – und das acht Stunden am Tag. Teams werden neu zusammengestellt, man arbeitet sich in andere Fachgebiete ein. Dazu kommt die psychische Belastung. Die Pflegenden begleiten jeden Tag Menschen beim Sterben. Und immer schwingt das Gefühl der Angst mit, sich selbst anzustecken; nicht nur im Krankenhaus, sondern auch in der Familie. Das alles ist auf Dauer schwer auszuhalten. Und nun wurde in Sachsen auch noch das Arbeitszeitgesetz ausgesetzt, ohne vorher mal darüber zu diskutieren. Das empfinden viele Kollegen als unfair.
Das heißt, dass Arbeitgeber etwa in Krankenhäusern und Pflegeheimen die Arbeitszeit auf bis zu zwölf Stunden ausdehnen dürfen.
Passiert das nicht schon?
Ja, aber nur in einzelnen Einrichtungen. Jetzt ist das grundsätzlich möglich, um die Versorgung trotz ausgefallener Kollegen sicherstellen zu können. Das Problem ist aber nicht die Pandemie an sich, sondern die bereits schon vorher knappen Personalschlüssel.
Vielleicht kann die versprochene Corona-Prämie die Stimmung verbessern?
Mir kommt es so vor, als wolle die Politik damit ihr schlechtes Gewissen beruhigen. Es ist ja schon die dritte Corona-Prämie. Auf jeden Fall motiviert sie nur kurzfristig. Den Mitarbeitern geht es in erster Linie nicht um mehr Geld, sondern um bessere Arbeitsbedingungen.
Was verdient eigentlich eine Pflegefachkraft im Krankenhaus?
Das hängt vom Arbeitsbereich und von der Berufserfahrung ab. Als Berufsanfänger erhält man etwa 3.000 Euro brutto im Monat. Nach 16 Dienstjahren kann sich das auf bis zu 3.800 Euro erhöhen.
Ist das aus Ihrer Sicht angemessen?
In den letzten Jahren hat sich hier einiges getan. Aber gemessen an der Verantwortung ist es immer noch zu wenig. Vor allem klafft noch eine große Lücke zwischen Krankenhäusern und Altenpflege. Als Berufsverbände fordern wir 4.000 Euro Einstiegsgehalt.
Wie groß ist diese Lücke?
Je nach Bereich und Träger können das mehrere Hundert Euro sein.
Mehr Geld für die Altenpfleger würde höhere Eigenanteile für die Betroffenen bedeuten.
Nicht zwangsläufig. Der Deutsche Pflegerat hat vorgeschlagen, den Pflegenden einen höheren steuerlichen Freibetrag zu gewähren. Das käme auf dem Lohnzettel einer Gehaltserhöhung gleich, würde aber die Pflegepersonen und die Pflegekassen nicht belasten. In die gleiche Richtung geht der Vorschlag, die Zuschläge für Nacht- und Wochenenddienste steuerfrei zu stellen und deutlich zu erhöhen. Aber passiert ist bisher nichts. Stattdessen dreht sich die Diskussion nur um Mindestlöhne.
Für die Krankenpflege hat der Bund Personaluntergrenzen beschlossen. Eine gute Sache für Patienten und Mitarbeiter, oder?
Grundsätzlich ja. Aber die Berechnung der Untergrenzen steht auf einer wackligen Basis. Und in der aktuellen Situation schaffen sie eher neue Probleme. Den Krankenhäusern drohen nämlich Sanktionen, wenn sie die Untergrenzen in den festgelegten Bereichen unterschreiten.
Was ist daran falsch?
In den Krankenhäusern fehlen zurzeit etwa 20 Prozent der Pflegekräfte oder noch mehr – vor allem wegen Krankheit oder Quarantäne. Sie müssen jeden Tag neu entscheiden, wo diese Mitarbeiter am dringendsten gebraucht werden. Da entstehen zwangsläufig irgendwo Löcher. Deshalb gibt es bereits Forderungen, die Personaluntergrenzen ganz auszusetzen. Wir als Pflegerat Sachsen wollen das nicht, sprechen uns aber dafür aus, vorerst auf Sanktionen zu verzichten.
Zeitarbeitsfirmen machen aus der Not eine Tugend: Sie stellen Pflegepersonal ein und vermieten es an Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen. Die zahlen dann mehr als vorher, müssen sich bei der Dienstplanung aber nach den Wünschen dieser Mitarbeiter richten. Das ist doch Irrsinn.
Es ist leider die Realität. Manchmal kehren die Kollegen als Zeitarbeiter sogar an ihren alten Arbeitsplatz zurück. Sie verdienen aber mehr und sie können bestimmen, wann und wie viele Stunden sie arbeiten wollen – vielleicht nur noch sechs Stunden, keine Schichten, keine Wochenenden. Das vermittelt ihnen das Gefühl, selbst ihre Arbeitsbedingungen beeinflussen zu können.
Warum schließen sich die Krankenhäuser einer Stadt oder Region nicht zusammen und bilden zum Beispiel einen Pflegepool?
Das ist nicht so einfach, es gibt ja auch eine Konkurrenz zwischen den Krankenhäusern. Und wenn man ehrlich ist: Eine familienfreundliche Arbeitszeit für alle Pflegenden ist eine Illusion. Patienten müssen auch nachts, am Wochenende und Heiligabend versorgt werden. Deshalb halten wir steuerfreie und höhere Zuschläge für die bessere Lösung. Vor allem aber löst ein Pflegepool das Grundproblem nicht – es gibt einfach nicht genügend Personal. Und das nicht nur in den Krankenhäusern, sondern auch in der stationären und ambulanten Pflege. Wenn sich jetzt nicht schnell etwas tut, sehen wir die pflegerische Versorgung in Sachsen bedroht.
Wie viele Pflegekräfte gibt es eigentlich in Sachsen?
Etwa 45.000 Fachkräfte. Aber das ist keine zuverlässige Zahl, weil es verschiedene Statistiken gibt. Damit fängt das Problem schon an: Niemand kennt genaue Zahlen über die größte Berufsgruppe im Gesundheitswesen. Wie steht es um Qualifikationen? Wann gehen sie in den Ruhestand? Das wäre anders, wenn es eine Pflegekammer gäbe. Sie könnte ohne Probleme sehr genaue Daten zur Verfügung stellen, eigenständig die Aus-, Fort- und Weiterbildung organisieren, Regeln für die Berufsgruppe aufstellen, ethische Debatten führen.
Was muss aus Ihrer Sicht passieren?
Der Pflegeberuf muss attraktiver gemacht werden. Das wäre zum Beispiel möglich, indem man die Kompetenz der Pflegenden besser nutzt und ihnen mehr Verantwortung überträgt. Ich wünsche mir eine Debatte über den Einsatz der hohen Kompetenzen von Pflegenden und ein Ende der Debatten über Defizite und immer weitere Kontrollen. Pflegende können mehr, als sie dürfen – wir nutzen diese Chance nur kaum. Eine Pflegefachkraft ist durchaus in der Lage, Patienten mit chronischen Schmerzen und Wunden, mit Diabetes oder mit Demenz eigenständig zu versorgen. Das muss nicht immer der Hausarzt machen. Vor allem im ländlichen Raum würde das viele Ärzte entlasten. Die nächste Stufe wäre, dass Pflegekräfte die Versorgung der Patienten zu einem guten Teil selbst steuern – natürlich auch das immer in enger Absprache mit den Ärzten. Mit digitaler Technik ist das heute gar kein Problem mehr.
Warum wird so wenig auf Sie gehört?
Der Pflegerat ist keine legitimierte Vertretung aller beruflich Pflegenden. Die Pflegekammer könnte es aber sehr wohl sein.
Spüren Sie, dass zumindest die Politiker in Sachsen Ihre Vorschläge ernst nehmen?
Nein. Ich kann verstehen, dass die Staatsregierung zurzeit stark beschäftigt ist. Aber wenn man rechtzeitig auf uns gehört hätte, gäbe es manche Probleme jetzt gar nicht. Und da rede ich nicht nur vom Personalmangel. Pflegekräfte könnten zum Beispiel auch impfen, dürfen es aber nicht. Aus Sicht des Pflegerates ist es höchste Zeit, dass es in der sächsischen Regierung – wie schon auf Bundesebene – einen Pflegebevollmächtigten im Rang eines Staatssekretärs gibt. Der sollte am besten in der Staatskanzlei angesiedelt sein und gemeinsam mit den Ministerien so schnell wie möglich einen Masterplan Pflege entwerfen.
Was soll in einem solchen Masterplan stehen?
Jetzt geht es um schnelle und wirksame Schritte. Wir brauchen ein Programm für Pflegekräfte, die sich irgendwann aus dem Beruf verabschiedet haben und unter attraktiveren Bedingungen eine Rückkehr vorstellen können. Wir müssen die Ausbildung auf allen Ebenen stärken, vom Pflegehelfer bis zum Akademiker. Höhere Abschlüsse stärken die Kompetenz, um etwa die vorhin beschriebenen komplexen Versorgungsaufgaben erfüllen zu können. Andere Staaten sind da schon viel weiter.
In den letzten Tagen häufen sich Forderungen nach einer Impfpflicht für bestimmte Berufe, darunter auch Pflegepersonal. Wie stehen Sie dazu?
Der Pflegerat appelliert an alle Beschäftigten: Lasst euch impfen! Es passt nicht zu unserem Berufsverständnis, dass man Menschen, die man pflegt, in Gefahr bringt. Wenn alle Appelle nicht ausreichen, dann plädiert der Pflegerat für eine Impfpflicht in allen Einrichtungen, wo Menschen durch Kontakte besonders gefährdet sind. Diese Impfpflicht muss dann aber für alle Berufsgruppen gelten, also nicht nur für Pflegende, sondern auch für Ärzte, Physiotherapeuten, Alltagsbegleiter und Küchenpersonal. Noch besser wäre eine generelle Impfpflicht für alle Menschen.
Müssen Sie nicht befürchten, dass noch mehr Mitarbeiter die Segel streichen?
Durchaus. Nicht nur in den Krankenhäusern ist die Lage prekär, auch viele Pflegedienste stehen am Rande. Aber ich setze auf die Einsicht der Kollegen. Sie haben sich den Beruf freiwillig ausgesucht mit dem Willen, anderen zu helfen. Aus anderen Ländern wissen wir übrigens, dass die Impfpflicht nicht zum Exodus führte.