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Medizinhistorikerin zur Pflege: "Deutschland lässt seine Alten im Stich"

In ihren 30 Jahren als Krankenschwester hat Monja Schünemann viel gesehen. Ein Gespräch über Mängel in der Pflege, die Ignoranz der Politik und Frauen als Opfer.

Von Kornelia Noack
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Allein im Heim, weil Pflegekräfte fehlen. Deutschland sei auf dem Weg in eine humanitäre Katastrophe, sagt Autorin Monja Schünemann.
Allein im Heim, weil Pflegekräfte fehlen. Deutschland sei auf dem Weg in eine humanitäre Katastrophe, sagt Autorin Monja Schünemann. © 123rf

Deutschland ist in der Pflege auf dem besten Weg in eine humanitäre Katastrophe, ist Monja Schünemann überzeugt. 30 Jahre lang arbeitete sie als Fachkrankenschwester, bis sie an dem angeblich besten Gesundheitssystem der Welt verzweifelte. Sie studierte Geschichte und lehrt heute an der TU Chemnitz. In ihrem Blog „Pflegephilosophie“ gibt sie Pflegekräften eine Stimme. Nun hat die 52-Jährige ein Buch geschrieben: „Der Pflege-Tsunami“. Darin erklärt sie, was hierzulande alles falsch läuft.

Frau Schünemann, oft ist von einem Pflege-Notstand die Rede. Sie nennen es einen Tsunami. Warum?

Verfassungsrechtlich ist ein Notstand ein Zustand, den es möglichst schnell zu beheben gilt. Schwesternmangel, wie der Pflege-Notstand früher hieß, begleitet uns aber schon über 100 Jahre. Notstand trifft es also nicht mehr. Es ist ein Status quo, der sich halten konnte, weil die Geburtenjahrgänge stark waren. Inzwischen sind wir im demografischen Wandel. Die Welle hat sich durch die Ignoranz der Politik aufgebaut. Der Punkt, wo man es hätte ändern können, wurde verpasst.

Monja Schünemann ist Medizinhistorikerin an der TU Chemnitz und Buchautorin.
Monja Schünemann ist Medizinhistorikerin an der TU Chemnitz und Buchautorin. © Edel Books

Was kommt nun auf uns zu?

Die geburtenstarken Jahrgänge werden jetzt pflegebedürftig. Und es sind nicht genügend Menschen da, die sie fachlich versorgen können. Weder in Kliniken noch in Altenheimen. Viele Pflegekräfte gehen in Rente, jüngere kommen nicht genug nach. Wir wissen, dass 2030 rund 500.000 Fachkräfte fehlen werden. In Kliniken oder Heimen heißt es jetzt schon oft: Wir haben keine Betten. Das stimmt nicht. Es gibt Betten, nur Pflegende fehlen. Deutschland lässt seine Alten und Kranken im Stich.

Was bedeutet das für Familien mit pflegebedürftigen Angehörigen?

Dass die Pflege wieder mehr in die Familie getragen wird. Das sehen wir auch daran, dass Kinderlose nun mehr Beiträge zur Pflegeversicherung zahlen sollen. Pflege wird vom Staat so gesehen wie 1950: als Angelegenheit der Frau, die die Familie zu pflegen hat, als hätte sie kein eigenes Leben. Allerdings hat sich mit der Globalisierung der Familienbegriff verändert. Familien sitzen nicht mehr örtlich so nah beieinander, dass immer einer das Leben liegenlassen kann, um jemanden zu pflegen. Man sucht andere Bezugspunkte, beispielsweise die Geschwister. In der Regel springen dann die Frauen ein. Ich denke, die Freiheit von Frauen in ihrer Berufswahl ist in den nächsten Jahren sehr eingeschränkt.

Wie meinen Sie das?

Erst kümmern sich die Frauen um die Kinder, dann um die Eltern und Schwiegereltern, dann sind die Männer dran. Und die Frauen sind bei all dem allein. Sie können nur noch Teilzeit arbeiten, was sie in einem gewissen Grad unfrei macht und Altersarmut schafft. Finanzminister Christian Lindner spricht von Wohlstand, aber den sehe ich nicht gewahrt, wenn die Hälfte der jungen Bevölkerung nicht mehr frei entscheiden kann, was sie tun möchte.

Sie beschreiben gerade Frauen als Opfer des Pflegesystems?

Etwa 99 Prozent der privat Pflegenden sind Frauen, in Kliniken und Heimen liegt der Anteil bei 90 Prozent. Viele Deutsche haben die Vorstellung, dass Pflegearbeit gratis ist und von einer Frau erledigt werden muss. Das sind Rollenbilder, die von Kindsbeinen an vorgelebt werden und die dazu führen, dass sich Männer weniger für Pflege zuständig fühlen. Die Last liegt in den allermeisten Fällen also bei der Frau.

Sie kritisieren besonders die Kümmererrolle. Warum?

Frauen werden gern darauf reduziert. Das ist durchaus problematisch, denn das Kümmern wird einem nicht in die Wiege gelegt. Es wird den Frauen einfach übergeholfen. Die Kompetenzen dazu muss man erwerben, und es ist schlicht und ergreifend harte Arbeit. Pflege ist nicht nur Kümmern.

Was ist denn Pflege?

Eine ganzheitliche Versorgung und Beratung in 13 Aktivitäten des alltäglichen Lebens, um Pflegebedürftigkeit zu vermeiden. Pflege setzt lange vor der Pflegebedürftigkeit an.

Sie äußern sich immer wieder scharf zum Zustand der Pflege in Deutschland. Was ist da schiefgelaufen?

Das System ist kaputt und nicht mehr zu retten. Dafür gibt es zwei wichtige Gründe. Zum einen hat die Politik immer anderen Dingen den Vorrang gegeben. 1993 war die Einführung der Pflegeversicherung wichtiger, dann die Folgen der Wende, dann kam Corona. Es ist historisch gesehen übrigens das erste Mal, dass wir aus Krieg und Pandemie nichts für die Pflege lernen. Nach Cholera-Pandemien zum Beispiel hatte man erkannt, dass man Pflegende besser schützen muss. Was machen wir heute? Obwohl es zu Beginn von Corona nicht genug Schutzkleidung gab, wurde es als Pflicht der Pfleger angesehen, weiterzuarbeiten. Sie galten als Helden. Dabei haben wir sie geopfert. Schlimmer als im 19. Jahrhundert.

Was ist der zweite Grund?

Es gibt aus der Politik verheerende Sätze. Norbert Blüm wird zum Beispiel die Aussage zugeschrieben: Pflege kann jeder. Tatsächlich ist in vielen Köpfen ein uraltes Bild verankert: Pflege ist Händchen halten. Die Gesellschaft ist überhaupt nicht aufgeklärt, was Pflege eigentlich kann. Daher kann sie auch nicht verstehen, was ihr vorenthalten wird. In Spanien etwa waren im November 200.000 Menschen auf die Straße und haben gesagt: Hände weg von unseren Pflegenden und unserem Gesundheitssystem. Das ist in Deutschland noch nie passiert.