Medizinhistorikerin zur Pflege: "Deutschland lässt seine Alten im Stich"
In ihren 30 Jahren als Krankenschwester hat Monja Schünemann viel gesehen. Ein Gespräch über Mängel in der Pflege, die Ignoranz der Politik und Frauen als Opfer.
Deutschland ist in der Pflege auf dem besten Weg in eine humanitäre Katastrophe, ist Monja Schünemann überzeugt. 30 Jahre lang arbeitete sie als Fachkrankenschwester, bis sie an dem angeblich besten Gesundheitssystem der Welt verzweifelte. Sie studierte Geschichte und lehrt heute an der TU Chemnitz. In ihrem Blog „Pflegephilosophie“ gibt sie Pflegekräften eine Stimme. Nun hat die 52-Jährige ein Buch geschrieben: „Der Pflege-Tsunami“. Darin erklärt sie, was hierzulande alles falsch läuft.
Frau Schünemann, oft ist von einem Pflege-Notstand die Rede. Sie nennen es einen Tsunami. Warum?
Verfassungsrechtlich ist ein Notstand ein Zustand, den es möglichst schnell zu beheben gilt. Schwesternmangel, wie der Pflege-Notstand früher hieß, begleitet uns aber schon über 100 Jahre. Notstand trifft es also nicht mehr. Es ist ein Status quo, der sich halten konnte, weil die Geburtenjahrgänge stark waren. Inzwischen sind wir im demografischen Wandel. Die Welle hat sich durch die Ignoranz der Politik aufgebaut. Der Punkt, wo man es hätte ändern können, wurde verpasst.
Was kommt nun auf uns zu?
Die geburtenstarken Jahrgänge werden jetzt pflegebedürftig. Und es sind nicht genügend Menschen da, die sie fachlich versorgen können. Weder in Kliniken noch in Altenheimen. Viele Pflegekräfte gehen in Rente, jüngere kommen nicht genug nach. Wir wissen, dass 2030 rund 500.000 Fachkräfte fehlen werden. In Kliniken oder Heimen heißt es jetzt schon oft: Wir haben keine Betten. Das stimmt nicht. Es gibt Betten, nur Pflegende fehlen. Deutschland lässt seine Alten und Kranken im Stich.
Was bedeutet das für Familien mit pflegebedürftigen Angehörigen?
Dass die Pflege wieder mehr in die Familie getragen wird. Das sehen wir auch daran, dass Kinderlose nun mehr Beiträge zur Pflegeversicherung zahlen sollen. Pflege wird vom Staat so gesehen wie 1950: als Angelegenheit der Frau, die die Familie zu pflegen hat, als hätte sie kein eigenes Leben. Allerdings hat sich mit der Globalisierung der Familienbegriff verändert. Familien sitzen nicht mehr örtlich so nah beieinander, dass immer einer das Leben liegenlassen kann, um jemanden zu pflegen. Man sucht andere Bezugspunkte, beispielsweise die Geschwister. In der Regel springen dann die Frauen ein. Ich denke, die Freiheit von Frauen in ihrer Berufswahl ist in den nächsten Jahren sehr eingeschränkt.
Wie meinen Sie das?
Erst kümmern sich die Frauen um die Kinder, dann um die Eltern und Schwiegereltern, dann sind die Männer dran. Und die Frauen sind bei all dem allein. Sie können nur noch Teilzeit arbeiten, was sie in einem gewissen Grad unfrei macht und Altersarmut schafft. Finanzminister Christian Lindner spricht von Wohlstand, aber den sehe ich nicht gewahrt, wenn die Hälfte der jungen Bevölkerung nicht mehr frei entscheiden kann, was sie tun möchte.
Sie beschreiben gerade
Frauen als Opfer des Pflegesystems?
Etwa 99 Prozent der privat Pflegenden sind Frauen, in Kliniken und Heimen liegt der Anteil bei 90 Prozent. Viele Deutsche haben die Vorstellung, dass Pflegearbeit gratis ist und von einer Frau erledigt werden muss. Das sind Rollenbilder, die von Kindsbeinen an vorgelebt werden und die dazu führen, dass sich Männer weniger für Pflege zuständig fühlen. Die Last liegt in den allermeisten Fällen also bei der Frau.
Sie kritisieren besonders die Kümmererrolle. Warum?
Frauen werden gern darauf reduziert. Das ist durchaus problematisch, denn das Kümmern wird einem nicht in die Wiege gelegt. Es wird den Frauen einfach übergeholfen. Die Kompetenzen dazu muss man erwerben, und es ist schlicht und ergreifend harte Arbeit. Pflege ist nicht nur Kümmern.
Was ist denn Pflege?
Eine ganzheitliche Versorgung und Beratung in 13 Aktivitäten des alltäglichen Lebens, um Pflegebedürftigkeit zu vermeiden. Pflege setzt lange vor der Pflegebedürftigkeit an.
Sie äußern sich immer wieder scharf zum Zustand der Pflege in Deutschland. Was ist da schiefgelaufen?
Das System ist kaputt und nicht mehr zu retten. Dafür gibt es zwei wichtige Gründe. Zum einen hat die Politik immer anderen Dingen den Vorrang gegeben. 1993 war die Einführung der Pflegeversicherung wichtiger, dann die Folgen der Wende, dann kam Corona. Es ist historisch gesehen übrigens das erste Mal, dass wir aus Krieg und Pandemie nichts für die Pflege lernen. Nach Cholera-Pandemien zum Beispiel hatte man erkannt, dass man Pflegende besser schützen muss. Was machen wir heute? Obwohl es zu Beginn von Corona nicht genug Schutzkleidung gab, wurde es als Pflicht der Pfleger angesehen, weiterzuarbeiten. Sie galten als Helden. Dabei haben wir sie geopfert. Schlimmer als im 19. Jahrhundert.
Was ist der zweite Grund?
Es gibt aus der Politik verheerende Sätze. Norbert Blüm wird zum Beispiel die Aussage zugeschrieben: Pflege kann jeder. Tatsächlich ist in vielen Köpfen ein uraltes Bild verankert: Pflege ist Händchen halten. Die Gesellschaft ist überhaupt nicht aufgeklärt, was Pflege eigentlich kann. Daher kann sie auch nicht verstehen, was ihr vorenthalten wird. In Spanien etwa waren im November 200.000 Menschen auf die Straße und haben gesagt: Hände weg von unseren Pflegenden und unserem Gesundheitssystem. Das ist in Deutschland noch nie passiert.
Hier demonstrieren ja die Pflegenden selbst nur selten. Und wenn, wird ihnen oft Jammerei unterstellt.
Sie kassieren höhnische Kommentare von Passanten, die ihnen auch noch vorwerfen, amoralisch zu sein. Auch in den Medien finden die Demonstrationen kaum Beachtung. Das finde ich dramatisch. Pflege ist eine staatliche Daseinsfürsorge. Der Staat macht die Gesetze. Diese ermöglichen Pflegenden aber kaum mehr, ihren Beruf ordentlich auszuüben. Warum geht nicht die Bevölkerung auf die Straße und sagt: Ich demonstriere dafür, dass ich überleben kann. In Ländern, in denen Pfleger besser ausgebildet sind und es einen Betreuungsschlüssel von einer Krankenschwester auf sechs Patienten gibt, sterben Menschen. Bei uns mit schlechter ausgebildeten Pflegern ist der Schlüssel 1 zu 13 oder 1 zu 15. Wir wissen, dass Leute sterben. Aber es interessiert nicht mal diejenigen, die es bald selbst betreffen könnte.
Sind wir alle zu ignorant, solange wir nicht selbst davon betroffen sind?
Ja, vielen ist es egal. Sind sie gesund, denken sie, dass es sie nichts angeht, was in Kliniken oder Altenheimen passiert. Werden sie dann damit konfrontiert, sind sie entsetzt und hätten gern, dass es anders ist. Wir müssen hinschauen und uns fragen: Wie wollen wir versorgt werden, wenn wir krank sind? Wie wollen wir leben, wenn wir pflegebedürftig sind? Es reicht nicht, sich aufzuregen und auf Twitter ein böses Bild vom Essen im Heim zu posten. Daran sieht man schon, dass viele gar nicht begreifen, was Pflege eigentlich ist.
Warum herrscht so ein falsches Bild?
Es hat niemand Lust, sich damit auseinanderzusetzen. Hier klebt man sich für den Klimawandel auf die Straße. Niemand aber sagt, er hätte gern ein Gesundheitssystem mit kompetenten Pflegenden, die Älteren helfen, selbstständig zu bleiben. Es reicht nicht aus, lieb zu sein. Ein Beispiel: Helios bildet jetzt Pfleger in einem Wellnesshotel aus, damit sie das Essen ordentlich bringen können. Die Mahlzeit also, die im Tagessatz 3,50 Euro kostet. Da wird nicht etwa die Qualität des Essens verbessert, sondern es muss wie von einem Oberkellner serviert werden. Das hat mit Pflege nichts zu tun. Und männliche Politiker haben ohnehin kein Interesse daran, sich damit auseinanderzusetzen, was Care- und Nurse-Arbeiten sind. Sie sind ja auch nicht davon betroffen.
Was machen andere Länder besser?
In vielen Ländern sind Pflegende breiter aufgestellt. Bei uns gibt es drei Bereiche: die Klinik, die ambulante Pflege, die Altenpflege. In England ist das anders. Dort haben Pfleger in ländlichen Regionen eine eigene Praxis. Sie kommen nicht erst zum Einsatz, wenn jemand krank geworden ist, sondern betreuen und beraten Menschen in ihrem Zuhause, damit sie im besten Fall gar nicht erst pflegebedürftig werden. Sie erklären der Familie, was sie tun kann. Das ist es, was Pflege ausmacht. Bei uns geht es oft über ein Projektmodus nicht hinaus. Hinzukommt das Bewusstsein, dass Pflege eine Wissenschaft ist. Hier ist Pflege ein Assistenzberuf und wird deprofessionalisiert.
Was muss sich ändern?
Die Ausbildung muss deutlich stärker werden. Man kann zum Beispiel als Pflegehelfer oder Pflegeassistent starten und sich hocharbeiten. Das ist kein Problem. In China läuft es so. Dort lernen schon Schüler, wie man Ältere richtig lagert und versorgt. Dort ist aber auch das Bewusstsein da, dass im demografischen Wandel die meisten Menschen ihre Angehörigen zu Hause pflegen werden. Das fehlt hier den meisten.
Und in den Einrichtungen?
Es hilft nur endlich ein vernünftiger Pflegeschlüssel. Zurzeit träumt Gesundheitsminister Karl Lauterbach davon, die Pflegenden zu entlasten, indem Patienten schneller entlassen werden. So wären weniger Nachtdienste notwendig. Das halte ich für absurd. Denn wenn Leute schneller und ungesicherter nach Hause geschickt werden, fluten sie schneller über die Notaufnahmen oder ihre Hausärzte in die Kliniken zurück. Das entlastet niemand.
Hat die Pflege zu wenig Lobby?
Glaube ich nicht. Wir sind 1,7 Millionen. Die Menschen, die in der Pflege arbeiten, sind zu müde. Sie arbeiten 60 bis 80 Stunden in der Woche und werden ignoriert. Das Ignorieren ist größer als die Lobby.
Woher soll das Geld für
mehr Personal und eine bessere Ausbildung kommen?
Durch schlechte Pflege entstehen Schäden in Milliardenhöhe – und keiner fragt nach. Ich gehe also, solange mir keiner das Gegenteil beweist, davon aus, dass nicht zu wenig Geld im System ist, sondern dass wir es verbrennen. Wenn sich jemand beim Sturz zu Hause verletzt und an der Hüfte operiert werden muss, machen die Krankenhäuser damit Geld. Doch wir müssten das Geld nicht ausgeben, wenn wir durch gute Pflege dafür gesorgt hätten, dass sich niemand erst die Hüfte bricht. Die Investoren ziehen durch die Pflegeversicherung Geld in Milliardenhöhe aus unserem System. Also entweder investieren wir jetzt in gute Pflege oder bezahlen es gesellschaftlich mit dem Verlust von Wohlstand und der Freiheit der Frau. Denn irgendjemand wird in Zukunft pflegen müssen.
Sie berichten in Ihrem Buch von Kinderarbeit in der Pflege. Was genau meinen Sie damit?
Wir wissen von etwa 500.000 Kindern im Alter von 11 bis 18 Jahren in Deutschland, die mindestens 20 Stunden in der Woche zusätzlich zu ihren Schularbeiten Mitglieder der Familie pflegen. Eine Halbtagsstelle mit elf Jahren neben der Schule! Und die Kinder pflegen nicht nur, sondern kümmern sich auch um sich selbst. Das geht über jedes vorstellbare Maß hinaus, wenn wir von einer heilen Kindheit sprechen. Und es gibt keine Hilfe wie in England in Form von Community Health Nurses oder Hausarbeitsservice. Auch hier zeigt sich die Ignoranz der Politik. Sie stellen sich hin und sagen: Da müsst ihr euch Hilfe holen. Aber wo denn?
Haben Sie eine Lösung?
Die meisten Menschen sind mit Pflege allein. Ein großes Problem sind dabei gewaltvolle Situationen, die von Angehörigen, Patienten und Bewohnern in den Häuslichkeiten ausgehen. Es gibt allerdings auch horizontale Gewalt der Pflegenden untereinander. Diese Gewalt muss erfasst und durch Programme beseitigt werden. Schüler müssen in der Schule lernen, was Pflege ist, damit sie verstehen, wann sie sich in einer Pflegesituation befinden. Man könnte Apps zum Melden solcher Situationen implementieren und Daten auswerten. Pflegende verlassen zu Tausenden den Beruf. Man muss mehr dafür tun, sie zu halten.
Während Corona stand die Pflege oft im Fokus. Hat sich etwas geändert?
Nein. Eine Zeit lang war es für die Leute interessant, weil sie sich selbst gelangweilt haben. Sie haben das Leid der Pflegenden konsumiert, wie sie erst physisch und dann emotional ausgebeutet wurden. Es hat aber nicht dazu geführt, dass man sagt: So kann man mit Menschen in Deutschland nicht umgehen.
Sie selbst sind aus dem Beruf ausgestiegen. Was ließ sie verzweifeln?
Meine Ausbildung habe ich Ende der 80er gemacht. Es war eine Zeit der Veränderungen. 1993 wurde ein Pflegemodell eingeführt, nach dem wir uns ganzheitlich um 13 Aspekte am Menschen kümmern sollten. Nur zwei Jahre später wurde durch die Pflegeversicherung und die Politik alles vom Tisch gefegt und rationalisiert. Zudem setzte die Privatisierung ein. Die Pflege verkam immer weiter zum Abhaken. Nach 30 Jahren hatte der Beruf nichts mehr mit dem zu tun, den ich einmal gelernt hatte. Irgendwann habe ich gesagt: Mein Leben ist keine Generalprobe für das nächste und habe mich umorientiert.
Man gewinnt den Eindruck, dass Sie wütend und enttäuscht sind. Ist das so?
Interessante Frage. Frauen, die Missstände benennen, werden oft als wütend gelabelt. Ich bin Wissenschaftlerin, meine männlichen Kollegen werden nie gefragt, ob sie wütend seien. Nein, ich bin keinesfalls wütend, ich warne lediglich vor einem Desaster, das alle treffen wird. Wenn ich meinen Blog schreibe, entlaste ich viele Pflegekräfte emotional dadurch. Ich darf ja schimpfen. Die Zustände in der Pflege sind dramatisch, aber es sind nicht mehr meine. Ich habe losgelassen. Mich interessiert das Thema berufspolitisch und ethisch. Aber keine zehn Pferde kriegen mich zurück.
Wer sollte Ihr Buch lesen?
Alle Abgeordneten auf Bundes- und Länderebene. Je mehr Männer, umso besser. Außerdem Menschen, die noch nie mit Pflege zu tun hatten. Damit sie verstehen, wie es läuft und was ihnen entgeht.