Ein Bündnis für Gesundheit sieht die ambulante Versorgung in Sachsen gefährdet
Ein Sonnabendmittag in Sachsen. Erik Bodendieck, Präsident der Landesärztekammer, hat Bereitschaftsdienst. Sein Patient, ein Kind, klagt über eine Warze am Fuß. Auf seine Frage an den Vater, warum er mit dem Kind nicht am Montag zum Hausarzt gehe, antwortet dieser: Die Familie habe nur ein Auto und das benötige er in der Woche. Ein Extrembeispiel, aber längst kein Einzelfall. Nach Einschätzung von Hausarzt Frank Landgraf aus Freiberg könnten bis zu 80 Prozent der Bereitschafts-Einsätze auch am folgenden Werktag geklärt werden. „Wir fahren manchmal Hunderte Kilometer durchs Erzgebirge – am Ende wegen eines Rezepts“, sagt er auf einer Diskussionsveranstaltung mit Karl Lauterbach (SPD) in Chemnitz.
Während sich der Bundesgesundheitsminister bei seinem zweitägigen Besuch in Chemnitz vor allem die Probleme der Krankenhäuser anhörte, machte sich am gestrigen Mittwoch auch Sachsens ambulante Ärzteschaft Luft. „Unser größtes Problem ist die Diskrepanz zwischen dem unbegrenzten Leistungsversprechen der Politik – 24 Stunden an 365 Tagen im Jahr – und den begrenzten Ressourcen in der Realität“, sagt Präsident Bodendieck. Er ist gleichzeitig Sprecher des Bündnisses für Gesundheit in Sachsen, dem 39 Kammern, Berufs- und Fachverbände angehören. Seit fast 20 Jahren schon warne die Landesärztekammer vor dem demografischen Wandel und einem dramatischen Personalmangel in Sachsen. Geschehen sei nicht viel.
Bereits heute sind im Freistaat zum Beispiel 350 Hausarztstellen unbesetzt. Und es geht nicht nur um Ärzte. „Jemanden für eine Physiotherapeuten-Stelle zu finden, dauert in Sachsen im Schnitt 150 Tage“, sagt Toralf J. Beier, Chef des Verbands für Physiotherapie Landesgruppe Mitte. Kliniken und Praxen würden sich die Medizinischen Fachangestellten gegenseitig abwerben.
Bundesminister Lauterbach geht davon aus, dass die Personalprobleme noch schlimmer werden. „In fünf bis zehn Jahren werden wir eine bedeutsame Unterversorgung haben“, erklärt er in Chemnitz. Ursache sei, dass in den letzten zehn Jahren bundesweit 50.000 Ärzte zu wenig ausgebildet worden seien.
Allein mit mehr Ausbildungsplätzen ist es nach Ansicht von Erik Bodendieck aber nicht getan. „Wir haben in Sachsen nicht nur zu wenige junge Menschen, die nachwachsen. Es gibt auch eine Flucht aus medizinischen Berufen.“ Das liege nicht etwa daran, dass die junge Generation ihre Work-Life-Balance pflegen wolle. Bodendieck: „Überbordende Bürokratie, Kontrollwahn und Regressforderungen machen den Beruf für Ärzte und Heilmittelerbringer unattraktiv. Und sie stehlen wertvolle Zeit für die Behandlung von Patienten.“
Beispiele dafür hat er zuhauf: unterschiedliche Formulare für verschiedene Kosten- und Leistungsträger, wachsende Dokumentationspflichten, teils wenig praxistaugliche Hygienevorschriften, komplizierte Anträge, bei denen Patienten Hilfe benötigen oder unzählige Rückfragen von Krankenkassen. Wenn jemand unheilbar Krebs hat, muss in regelmäßigen Abständen bestätigt werden, dass er immer noch krebskrank ist. „Oder der Impfziffern-Irrsinn“, sagt Bodendieck. „Jede Art von Impfung hat eine andere Abrechnungsnummer, wobei angesichts der Sächsischen Impfkommission noch Unterschiede zwischen Bund und Land zu beachten sind.“
Weniger Bürokratie und mehr Zeit für Patienten
Physiotherapeuten-Chef Beier kann Ähnliches berichten: „Als ich 1994 angefangen habe, passte das Regelwerk für meinen Beruf auf eine A6-Seite. „Heute sind es über 300 A4-Seiten.“ Welcher junge Mensch wolle sich da durchkämpfen? Hinzu kämen Probleme bei der Abrechnung. „Ein falsch gesetztes Kreuz und ich bekomme am Ende kein Geld für meine Leistung“, so Beier. Die Kassen hätten bis zu vier Jahre Zeit zum Prüfen.
Die Lösung kann nach Meinung des Bündnisses für Gesundheit nur sein, alle Strukturen auf ihre Sinnhaftigkeit zu überprüfen. „Ist es zum Beispiel Aufgabe des Arztes, ein Windelrezept auszustellen“, so Bodendieck, „oder gehört das nicht besser in den Bereich der Pflege? Und muss für ein Auffrischungs-Rezept für eine Krankengymnastik zwingend der Orthopäde aufgesucht werden?“ Das Bündnis hat 75 Vorschläge erarbeitet, die weniger Bürokratie und mehr Zeit für Patienten bringen sollen. So soll zum Beispiel für die ersten drei Krankentage keine Krankschreibung vom Arzt mehr zwingend nötig sein.
Viele Vorschläge beziehen sich auf eine beschleunigte Digitalisierung. Sie klingen fast selbstverständlich: ein stabiles, flächendeckendes Internet an jedem Ort in Sachsen; die gleiche finanzielle Unterstützung für Hardware für alle Gesundheitsberufe und der Anschluss aller Leistungserbringer im Gesundheitswesen an elektronische Lösungen. Für Ärztekammerchef Bodendieck gibt es vor allem zwei Gründe, warum die Digitalisierung nur schleppend vorangeht: Das Zusammentreffen eines hochregulierten Gesundheitswesens auf ein Marktsystem sowie die leidige Diskussion um den Datenschutz.
Hilfe erhofft sich das Bündnis auch von einer beschleunigten Anerkennung ausländischer Ärzte und Therapeuten. „Hochprofessionelle Fachkräfte zum Beispiel aus der Ukraine dürfen nicht arbeiten, weil ihnen eine Beglaubigung oder der Sprachabschluss 2a fehlen“, so Beier. „Das können wir uns nicht länger leisten.“ Deshalb solle eine Arbeitsgruppe in Sachsen die Verwaltungsabläufe optimieren.
Das Gesundheits-Bündnis hat seine Vorschläge an Entscheidungsträger in Bund und Land geschickt. „Die Reaktionen sind noch verhalten“, sagt Bodendieck. Aber auch an die Patienten hat er eine Bitte: „Sie sollen bekommen, was sie brauchen, aber wieder mehr unterscheiden: Was ist dringend und was nicht?“ Eine Warze am Fuß ist mit Sicherheit kein Notfall.