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Selbsttest: Ist Waldbaden besser als spazieren gehen?

In Kursen sollen Gestresste lernen, wie man im Wald zur Ruhe kommt. Seit Corona wächst die Nachfrage, Krankenkassen zahlen dafür. Esoterischer Unsinn?

Von Susanne Plecher
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Erst die Ferse, dann langsam den ganzen Fuß: Die Dresdnerin Antje Jessen zeigt der Redakteurin, wie das geht mit dem achtsamen Gehen.
Wacklig!
Erst die Ferse, dann langsam den ganzen Fuß: Die Dresdnerin Antje Jessen zeigt der Redakteurin, wie das geht mit dem achtsamen Gehen. Wacklig! © Matthias Rietschel

Wald tut gut. Der Duft nach Harz, Laub, Pilzen, das Zwitschern der Vögel und das Rascheln der Blätter beruhigen aufgeregte Sinne und lassen Sorgen verblassen. Wer wöllte das bezweifeln?

Wanderschuhe an, rein in den Wald, schon geht die Erholung los. Wozu braucht man da einen Kurs, der Geld kostet, frage ich mich. Und verabrede mich mit Antje Jessen.

Die Erziehungswissenschaftlerin aus Dresden ist professionelle Entspannungsanleiterin. Unter dem Titel „Stressbewältigung durch Achtsamkeit im Wald“ hilft sie Nervösen und Überforderten, im ausgedehnten Wald der Dresdner Heide Ruhe zu finden – und wohl auch ein Stück zu sich selbst.

„Ich werde oft mit Vorurteilen konfrontiert. Viele finden das irgendwie esoterisch, andere unnötig: Das brauche ich nicht, das kann ich allein“, zitiert sie die Zweifler, als wir uns am Waldrand treffen und im Spaziertempo loslaufen. Als hätte sie meine Gedanken erraten.

Sitzen. Lauschen. Schweigen. Antje Jessen ruht im Wald in sich und will Rastlosen beibringen, wie auch sie das schaffen können.
Sitzen. Lauschen. Schweigen. Antje Jessen ruht im Wald in sich und will Rastlosen beibringen, wie auch sie das schaffen können. © Matthias Rietschel

Wir sind für eine Kursstunde Shinrin Yoku zusammengekommen. Ein Bad in der Atmosphäre des Waldes nehmen, heißt das übersetzt. Wörtlich ist das nicht zu verstehen, Handtuch und Badeanzug sind dafür nicht nötig.

Grün ist gut für Körper und Geist. Das ist Fakt.

Die japanische staatliche Waldbehörde entwickelte das Konzept Anfang der Achtzigerjahre. Sie wollte Bewohner der Millionenstädte Tokyo, Osaka und Kyoto dazu anregen, häufiger in der Natur zu sein. Sie hatten verdrängt, was man nicht nur in Japan eigentlich seit Jahrhunderten weiß: Der Weg durch den Wald führt zu einem gesünderen, glücklicheren Leben.

Erste Forschungsergebnisse untermauerten diese Weisheit, ebenfalls ab Mitte der 1980er: Amerikanische Wissenschaftler wiesen in einer Studie nach, dass sich Patienten nach einer Gallenblasen-OP schneller und mit wenige Schmerzmitteln erholten, wenn sie vom Fenster aus ins Grüne anstatt in einen zugemauerten Innenhof schauen konnten.

Andere Studien zeigten, dass der Cortisolgehalt im Blut bei Waldspaziergängern viel geringer ist als bei Laufbandjoggern.

Das japanische Landwirtschaftsministerium ließ 2004 erforschen, wie sich konkret das Waldbaden auf die Gesundheit auswirkt. Der Immunologe Qing Li, Professor an der Nippon Medical School, übernahm den Job.

Und wies in mehreren klinischen Studien nach, dass ein Aufenthalt oder Spaziergang im Wald Stress reduziert, Energielevel und Konzentration steigern, den Blutdruck senken, Depression und Nervosität entgegen wirken, das Immunsystem stärken und den Schlaf verbessern kann.

Li gilt inzwischen als Begründer der Forest Medicine, einer interdisziplinären Wissenschaft, die erforscht, wie der Aufenthalt im Wald Gesundheit und Wohlbefinden verbessert.

Erste Übung: Die Sorgen wegschieben. Aha.

Waldbaden ist längst zum Trend geworden, mit dem sich gut verdienen lässt. Es gibt Bücher, Anleitungsvideos, Kurse. Ist der moderne Mensch von der Natur tatsächlich so entkoppelt, dass er eine Anleitung braucht, um sich im Wald entspannen zu können?

Antje Jessen bleibt abrupt stehen. „Für das Waldbaden laufen wir viel zu schnell“, sagt sie und blickt lächelnd in die Baumkronen über dem Weg. Das war mir gar nicht aufgefallen. Ich warte vergebens auf weitere Erläuterungen. Mir dämmert: Langsamkeit und Stille, also die Abwesenheit von Unterhaltung, sind Teil des Konzeptes.

„Wir hetzen immer durch den Tag. Wer die Dinge langsam verrichtet, gilt als unproduktiv“, kommentiert Jessen meine unausgesprochenen Gedanken und läutet die Kursstunde mit Atemübungen aus dem Qi Gong ein. Wir stellen unsere Füße hüftbreit auf, die Beine sind leicht gebeugt, die Augen geschlossen. Die Arme öffnen sich so weit, bis der Rücken ins Hohlkreuz fällt und sich die Brustwirbelsäule aufdehnt. Beim Ausatmen lassen wir den Oberkörper fallen. „Schieben Sie die Sorgen des Tages von sich weg“, höre ich.

Zweite Übung: Landart. Das erinnert mich an den Kindergarten.

Als ob das so einfach ginge. Der Einwand mit der Esoterik kommt mir in den Sinn. Aber mit innererer Ablehnung werde ich nicht herausfinden, ob das Bad im Wald wirkt. Also lasse ich mich darauf ein. Und schiebe.

Doch bei der nächsten Aufgabe, Landart, meldet sich die innere Stimme wieder. „Kindergartengedöns“, spottet sie. Wir suchen Materialien und legen daraus gemeinsam ein Bild. Ohne zu sprechen. 20 Minuten sind dafür eingeplant. So etwas habe ich zuletzt gemacht, als meine Kinder klein waren und wir Mandalas mit Blättern und Steinchen legten.

Auch diese Aufgabe verfolgt den Zweck, die Aufmerksamkeit auf den aktuellen Moment zu lenken, sich nur auf ihn zu konzentrieren. Die Geräusche, Düfte, das Klima des Waldes nimmt man dabei ganz automatisch wahr.

Plötzlich bin ich es, die in die Baumwipfel über dem Weg schaut. Sachte bewegt sich ein Ast mit reifen Vogelbeeren im Wind. Eicheln krachen auf den Boden. Am Waldrand knattert ein Moped vorbei. Ich hebe einen Zweig auf, Eicheln, altes Laub. Beim Bücken und Sammeln gelingt, was mit Qi Gong nicht funktionierte. Kurzzeitig denke ich an nichts anderes mehr. Ich suche, schaue und sammle. Mehr nicht.

„Die Umgebung mit allen Sinnen wahrzunehmen ist eine Fähigkeit, die besonders uns Stadtmenschen verloren gegangen ist“, sagt Jessen. Also Büroarbeitern wie mir, die den ganzen Tag vor dem Rechner sitzen. „IT-ler, Medienleute, Mediziner – Leute, die viel mit dem Kopf arbeiten– buchen unsere Kurse“, sagt Jörg Meier.

Er ist der Vorsitzende des Verbandes Waldbaden Deutschland, der 2019 gegründet worden ist. 140 Mitglieder vertritt er inzwischen. Waldbaden erfreut sich in Deutschland einer immer größeren Nachfrage.

„Corona hat diese Tendenz verstärkt“, so Meier. Nach jedem Lockdown hätten sich die Anmeldungen in den Kursen erhöht, sei das Bedürfnis nach Natur und Entspannung deutlich gestiegen.

Tausend Mal gesehen. Aber schon mal berührt? Und gespürt, wie sich das Moos anfühlt und wie die Rinde?
Tausend Mal gesehen. Aber schon mal berührt? Und gespürt, wie sich das Moos anfühlt und wie die Rinde? © Matthias Rietschel

Dritte Übung: Gehen. Sie meint das Ernst.

Acht Wochen dauert ein Kurs bei Antje Jessen, je zwei Entspannungselemente baut sie in die Stunden ein. Das Gehen, sagt sie, sei eines ihrer Liebsten. Gehen. Im Ernst?

Wir ziehen Schuhe und Strümpfe aus. Antje Jessen schreitet voran, setzt die Ferse als Erstes auf. Ich wackle hinterher. Die Balance zu finden, ist nicht leicht. Steinchen und kleine Äste pieken sich in die Ferse, Kiefernnadeln und Moos fühlen sich herrlich an: weich, zart. Streichelnd.

Ein Rabe krächzt. Auf dem Weg nähern sich zwei Frauen. Ich denke kurz über das seltsame Bild nach, das wir ihnen bieten, so barfuß, wie wir über den Waldboden staken.

Antje Jessen lächelt. Ruht in sich. Macht ihr das nichts aus? „Am Anfang schon, aber dann habe ich gemerkt, wie ich runter komme. Beim bewussten Gehen spüre ich die Natur und meinen Atem. Jetzt mache ich es einfach. Was andere denken könnten, ist mir gleich“, sagt sie.

Ich verstehe: Ohne diese Übungen wird der Wald zur Kulisse, die vorbeirauscht, während man redet oder sinniert. Mit den Übungen fühlen wir den Wald, zwingen die abschweifenden Gedanken zurück ins Hier und Jetzt. Das schafft Abstand zu aktuellen Sorgen. Der Geist kann sich entspannen.

Klingt esoterisch? Ja. Fühlt sich aber gut an.