Merken

Von Hundert auf Null

Krankschreibungen, Reha-Tage, Frührente – die Folgen der Corona-Pandemie für die Arbeitswelt sind längst nicht abzusehen. Wie ist das, wenn Long Covid plötzlich alles in Frage stellt? Eine Marketing-Managerin aus Dresden hat es erlebt.

Von Annett Kschieschan
 6 Min.
Teilen
Folgen
Ihre Long-Covid-Erkrankung hat die Marketing-Managerin Kerstin Z. wochenlang schachmatt gesetzt. Langsam hat sie sich zurückgekämpft.
Ihre Long-Covid-Erkrankung hat die Marketing-Managerin Kerstin Z. wochenlang schachmatt gesetzt. Langsam hat sie sich zurückgekämpft. © Michael K.

Wie lange braucht man, um 15 Stufen hochzulaufen? Keine 30 Sekunden. Normalerweise. Im Mai waren die 15 Stufen für Kerstin Z. ein Kraftakt, der sich nur bewältigen ließ, weil es an der Treppe ein Geländer zum Festhalten gibt. „Danach bin ich völlig fertig wieder ins Bett gefallen“, erzählt die Mittvierzigerin. Fünf Wochen lang bestanden die Tage der Marketing-Managerin vor allem darin, zu liegen. Im Haus. „Den Weg in den Garten habe ich nicht geschafft“.

Kerstin Z. weiß, wie man Probleme löst. Seit knapp 20 Jahren arbeitet sie bei der SHD System-Haus-Dresden GmbH, einem großen IT-Dienstleister in der sächsischen Landeshauptstadt. Sie verantwortet die Öffentlichkeitsarbeit. Geschäftsreisen, Meetings, Kongresse – kommunizieren, netzwerken, recherchieren, auf den Punkt genau abliefern, das kann die Marketing-Spezialistin. Das konnte sie bis zum Frühjahr 2022. Im März infizierte sie sich mit Covid-19. Das Krankheitsgefühl beschreibt sie mit einer „starken Grippe“. Es ging ihr nicht gut, aber es wurde bald besser. Ein normaler Verlauf, würde man das in der seit zweieinhalb Jahren erprobten Corona-Terminologie nennen. Kerstin Z. ging wieder arbeiten. Sie fühlte sich fit. Bis zu jenem Freitag einen Monat später. „Ich kam von der Arbeit nach Hause und war plötzlich so erschöpft, dass ich nicht anderes tun konnte, als mich hinzulegen“, erinnert sich die Marketing-Managerin.Der Mann und die Söhne starteten allein in den geplanten Wochenendausflug.

In den folgenden Stunden verschlimmerten sich die Symptome. Das Schwächegefühl nahm so zu, dass selbst die Kraft zum Aufstehen fehlte. Der Hausarzt war schnell sicher: Was Kerstin Z. erlebte, war Long Covid. In den Tagen darauf folgten erhebliche Atemprobleme und Gliederschmerzen. Kaum jemand, der inzwischen niemanden kennt, der unter den Langzeitfolgen einer Corona-Infektion leidet. Je nach Studie sind zwischen knapp zehn und rund 40 Prozent der Erwachsenen betroffen. Oft Menschen in den 30ern und 40ern, also jener Lebensphase, in der beruflich und familiär die größte Leistungsfähigkeit gefragt ist. Warum das so ist? Weshalb es die Eine trifft und den Anderen nicht? Wieso es oft so stark die Muskeln angreift und warum viele Patienten schlimme Gliederschmerzen haben? Die Medizin tappt noch immer im Dunkeln.

Rückhalt im Betrieb

Kerstin Z. ist kein Mensch, der sich mit einer Antwort, die keine ist, zufriedengibt. Als ihr Vater an den Folgen einer schweren Krankheit starb, machte die Tochter auf Missstände im Gesundheitssystem aufmerksam. „Oft sind den Ärzten die Hände gebunden“, weiß Kerstin Z.. Sie recherchierte selbst und wurde von einem Regisseur zur Mitarbeit an einer Dokumentation, die später deutschlandweit ausgestrahlt wurde, angefragt. „Nach dem Dreh bat mich ein Arzt in sein Büro. Er legte die Akte meines Vaters auf den Tisch und sagte: Es tut mir sehr leid. Ich durfte für Ihren Vater nicht mehr tun.“ Zwei Jahre später wurde Kerstin Z. zu der Talkshow „Nachtcafé“ eingeladen. Sie erinnert sich noch gut. Damals war sie Ende zwanzig.

Als es in der Familie vor ein paar Jahren erneut zu zwei schwerwiegend, chronischen Erkrankungen kommt, vertieft sie sich wieder in Studien, organisiert, fragt nach, probiert aus.Eine Macherin, der – im wahrsten Sinne des Wortes – die Puste ausging. Kerstin Z. trifft Long Covid mit voller Wucht. Wenn der Tag mit dem Job und der großen Familie sonst gern mal 18 Stunden hatte und plötzlich gar nichts mehr geht, leidet neben dem Körper auch das Selbstbild. „Plötzlich stellt man sich Fragen, über die man vorher so noch nie nachgedacht hat. Was, wenn ich nie mehr arbeiten kann? Werde ich jetzt berufsunfähig? Wie soll das Leben so weitergehen?“ Fragen, die sich viele Long-Covid-Betroffene stellen. Eine stichprobenbasierte Befragung der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation im vergangenen Herbst hatte ergeben, dass schon damals reichlich sieben Prozent aller Reha-Patientinnen und Patienten eine Post-Covid-(Zusatz-)Diagnose hatten. Die Zahl dürfte inzwischen deutlich höher liegen.

Und zunehmend wird das Thema auch in den Personalabteilungen erkannt. Immer mehr Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die längerfristig oder immer wieder ausfallen – die Folgen der Pandemie werden auch volkswirtschaftlich erst in einigen Jahren absehbar sein.Kerstin Z. hatte Glück. „Unser Geschäftsführer rief mich während der Krankschreibung persönlich an, fragte, wie es mir geht, nahm sich Zeit und versicherte mir, dass ich mir keine Sorgen machen müsste. Im Gegenteil, ich solle mir die Zeit nehmen, die ich brauche, um wieder gesund zu werden. Meine Teamkolleginnen und -kollegen hätten außerdem alles hervorragend im Griff“, erzählt die Marketing-Managerin und sie erzählt auch, wie erleichtert sie nach diesem Gespräch war. Wenn zur Sorge um die eigene Gesundheit noch die Angst um die berufliche Zukunft kommt, geraten Betroffene unter Umständen eine Spirale aus Panik und Hoffnungslosigkeit. Der dadurch entstehende Stress kann die Symptome verschlimmern.

Im Unternehmen weiß man das. „Ich trage seit über 30 Jahren die Verantwortung für meine Mitarbeiter. Die meisten haben Kinder und Familie. Mir und uns als SHD war und ist es immer wichtig, den Mitarbeitern Sicherheit und Stabilität zu geben. Wir legen sowohl auf gesundes Wachstum als auch auf die Gesundheit der Mitarbeiter großen Wert. Am Stammsitz in Dresden haben wir zum Beispiel einen Defibrillator. Wir bilden auch einen Teil unserer Mitarbeiter zu Ersthelfern aus“, so SHD-Geschäftsführer Dr. Frank Karow. Kerstin Z. kämpft sich derweil langsam in die Normalität zurück. Den Krankheitsverlauf beschreibt sie als wellenartig. „An manchen Tagen ging es deutlich bergauf, am nächsten waren die Symptome so schlimm wie am Anfang. Nach 14 Tage bekam ich einen schweren Rückfall, nachdem ich nur für einen Tag arbeiten war.“ Ihr Arzt rät ihr danach dringend, sich zu schonen. Ein weiterer Rückfall müsse unbedingt vermieden werden. Ganz langsam erobert sich die Marketing-Fachfrau nun ihren Arbeitsalltag zurück, zunächst im Homeoffice.

Nicht ohne Maske

Irgendwann aber hält sie es zu Hause nicht mehr aus. Sie macht sich zurecht, steigt ins Auto, hört laut Rammstein. „Ich wollte mein Leben zurück!“, bringt die Marketing Managerin das Gefühl an jenem Morgen auf den Punkt.Im Büro läuft alles gut, in den darauffolgenden Wochen steigert sie das Pensum langsam. Beim Arzt ist sie trotzdem schnell wieder - dieses Mal mit Lähmungserscheinungen in der rechten Hand. Ein weiteres Symptom von Long Covid? Mit hundertprozentiger Sicherheit kann das niemand sagen, aber die Vermutung liegt nahe. Neurologische Ausfälle gehören häufig zum Krankheitsbild. Auch hier herrscht noch Unklarheit darüber, warum das Virus bei einigen Betroffenen auch an dieser Stelle angreift.

Kerstin Z. macht, wie schon so oft im Leben, das Beste aus der Situation. Sie arbeitet inzwischen wieder voll, abwechselnd von zu Hause aus und im Büro. Dort trägt sie selbstverständlich eine Maske. Genauso wie im Supermarkt. „Wer Long Covid hatte, diskutiert nicht mehr über einen Mundschutz. Der tut alles, was er kann, um das nicht noch mal durchmachen zu müssen“, sagt sie.