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Unser Jahrgang: die "Wiedersehenskinder"

75 Jahre SZ: Sie sind so alt wie die SZ - vier Frauen und Männer aus Görlitz und Niesky des Jahrgangs 1946 erzählen über Nachkriegszeit, Lebenswenden und wie sie bis heute aktiv blieben.

Von Ines Eifler
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Der Gastwirt Johannes Witoschek gehört zu den Görlitzern des Jahrgangs 1946. Er wuchs in der Südstadt auf.
Der Gastwirt Johannes Witoschek gehört zu den Görlitzern des Jahrgangs 1946. Er wuchs in der Südstadt auf. © Nikolai Schmidt/Archiv

Der Gastwirt Johannes Witoschek, die frühere SPD-Politikerin Renate Schwarze, die ehemalige Schulleiterin Susanne Schneider oder in Niesky der Händler und Imker Bernd Barthel: Sie alle wurden 1946 geboren, ein Jahr nach dem Zweiten Weltkrieg, im Gründungsjahr der Sächsischen Zeitung. Sie alle feiern in diesem Jahr ihren 75. Geburtstag, übrigens wie Liza Minelli, Udo Lindenberg, Sylvester Stallone, Cher oder Bill Clinton.

Alle vier haben als Kinder die Nachkriegszeit in der jungen DDR erlebt, als Jugendliche den Mauerbau und als junge Erwachsene die bunten 1960er Jahre. Sie bauten sich in der DDR ein Leben auf und waren in den besten Jahren, als dieses Land an sein Ende kam. Mit Anfang 40 konnten sie noch einmal Neues wagen, als die Mauer fiel. Und dennoch sind sie ganz verschiedene Wege in ihren bisher 75 Jahren gegangen.

Kinder spielten straßenweise gegeneinander Fußball

"Wir sind die Generation der Wiedersehenskinder", sagt Renate Schwarze und meint damit die Kinder jener Väter, die im Krieg waren, aber schon bald zu ihren Familien zurückkehren konnten. Diese Väter sprachen zu Hause kaum über ihre Kriegserlebnisse und begrüßten anfangs häufig die Idee des neu gegründeten antifaschistischen Staates.

Die frühere SPD-Politikerin Renate Schwarze wurde 1946 in Görlitz geboren. "Wir waren die Wiedersehenskinder", sagt sie über ihren im ersten Nachkriegsjahr geborenen Jahrgang.
Die frühere SPD-Politikerin Renate Schwarze wurde 1946 in Görlitz geboren. "Wir waren die Wiedersehenskinder", sagt sie über ihren im ersten Nachkriegsjahr geborenen Jahrgang. © Nikolai Schmidt/Archiv

"Unser Verhältnis zu Eltern und Lehrern war von Respekt geprägt", sagt Johannes Witoschek. Er wuchs in der Görlitzer Südstadt auf, genau wie auch Susanne Schneider. Die beiden gingen die ersten beiden Jahre zusammen zur Schule auf der Ossietzkystraße. "Ich gehörte dann zum ersten Jahrgang der 'Russisch-Klassen' an der Annenschule", sagt Susanne Schneider, die sich auch gern an ihren Lehrer Horst Wenzel erinnert, der seine Schüler einen offenen Blick in die Welt lehrte und vor Engstirnigkeit schützte.

Renate Schwarze wuchs in der Innenstadt auf, ihr Vater betrieb Ecke Löbauer/Krölstraße eine Schneiderei in der Familienwohnung. Dort gingen Theaterschauspieler und Tanzlehrer ein und aus, um sich Anzüge und Kostüme schneidern zu lassen. "Aber auch viele andere Görlitzer – Geld war ja knapp – ließen bei uns Garderobe ändern und reparieren", sagt sie.

Nieskyer Kinder erlebten Ruinen der Nachkriegszeit

Was den Görlitzer Kindern erspart blieb, musste Bernd Barthel in Niesky erleben: Dort lag die Innenstadt in Trümmern, der Junge fürchtete den Weg durch die Ruinen, wenn er die Stadt durchqueren musste. "Vor allem aber habe ich von klein auf im Haushaltswarengeschäft meines Vaters geholfen", sagt Barthel über den 1878 gegründeten Laden, den er inzwischen selber seit fast 35 Jahren als "Haus der Geschenke" führt.

Bernd Barthel kam 1946 in Niesky zur Welt, wo er noch die Ruinen der Nachkriegszeit erlebte. Der Imker und Tierarzt führt bis heute das traditionsreiche Geschäft, das sein Großvater von 140 Jahren gründete.
Bernd Barthel kam 1946 in Niesky zur Welt, wo er noch die Ruinen der Nachkriegszeit erlebte. Der Imker und Tierarzt führt bis heute das traditionsreiche Geschäft, das sein Großvater von 140 Jahren gründete. © Jens Trenkler/Archiv

Alle vier erzählen, wie behütet und unbeschwert sie aufwuchsen, wie viel Liebe sie erfuhren in diesen ersten Friedensjahren und wie viel damals auf den Straßen los war. "Wir waren richtig viele Kinder", sagt Johannes Witoschek, "wir konnten straßenweise Mannschaften bilden und gegeneinander Fußball spielen." Auf dem Grünstreifen der Goethestraße habe das keinen gestört, Autos gab es nur wenige.

Renate Schwarze erinnert sich, wie viele Pferdewagen in den 1950ern noch über das Görlitzer Kopfsteinpflaster fuhren. Ihr Großvater war Kutscher bei einem Fuhrunternehmen auf der Dresdener Straße, an der Stelle des heutigen Edeka. Und an die vielen Möglichkeiten für Kinder: "Kino war billig, es gab das Pionierhaus, Sport-AGs und viele Schlupfwinkel, wo uns die Erwachsenen nicht gleich entdeckten", sagt sie, "wir haben verstanden, uns zu beschäftigen."

17. Juni und Mauerbau trübte unbeschwerte Kindheit

Die Idylle dieser unbeschwerten Kindheit wurde 1953 erstmals getrübt. Susanne Schneider erinnert sich, wie ein Zug aufgebrachter Menschen am 17. Juni die Zittauer Straße entlangzog, wie Gewalt und Angst vor einem neuen Krieg plötzlich in der Luft lagen, auch für sie als Sechsjährige spürbar.

Sie war als einziges Kind ihrer Eltern – die Mutter stammte aus Oberschlesien – "in Liebe und Toleranz" mit mehreren kinderlosen Tanten und dennoch in einem Spannungsfeld verschiedener politischer Ansichten aufgewachsen: "Mein Vater setzte Hoffnungen in den Sozialismus, die Frauen der Familie waren skeptisch", sagt Susanne Schneider. "1953 fürchteten sie die russischen Panzer und ein Eingreifen der Amerikaner."

Susanne Schneider, ebenfalls 1946 geboren. Sie gehörte dem ersten Jahrgang der "R-Klasse" an der Görlitzer Annenschule an. Die damalige "Russisch-Schülerin" und wurde später Russischlehrerin.
Susanne Schneider, ebenfalls 1946 geboren. Sie gehörte dem ersten Jahrgang der "R-Klasse" an der Görlitzer Annenschule an. Die damalige "Russisch-Schülerin" und wurde später Russischlehrerin. © Pawel Sosnowski/Archiv

Auch Renate Schwarze erinnert sich an die Panzer auf den Straßen und die Angst in der Stadt. "Der 17. Juni war ein großer Einschnitt für unsere Familie", sagt sie. "Ein Teil der Verwandtschaft ging danach in den Westen."

Ein Einschnitt war auch der Mauerbau 1961, wenn auch nicht für jeden der vier damals 15-Jährigen in Görlitz und Niesky. Johannes Witoschek hatte eine Schwester in Westberlin. "Natürlich war der Mauerbau Gespräch bei uns zu Hause", sagt er, "da begann gerade die Zeit, als man nicht mehr alles sagen durfte." Susanne Schneider erlebte 1961 das Entsetzen ihrer Tanten, die gern nach Westberlin fuhren und sich nun eingesperrt sahen, während ihr Vater den Mauerbau verteidigte.

"Wir waren mehrmals in der Woche tanzen"

Bernd Barthel fühlte sich weniger betroffen. "Die Mauer war weit weg", sagt er, "besonders in der Ulbrichtzeit fehlte es uns an nichts." Seine Jugend in Niesky sei von der Arbeit im Geschäft seines Vaters und der Imkerei geprägt gewesen. "Während andere herumlungerten, habe ich beides von der Pike auf gelernt."

Renate Schwarze sagt, den Mauerbau habe sie im Rückblick als bedrückend empfunden, ansonsten seien die 1960er Jahre eine glückliche, ausgelassene Zeit gewesen. "Da hatte man den Eindruck, jetzt geht es richtig los." Das sei zwar nicht eingetroffen, aber die Stimmung war gut. "Wir sind so viel ausgegangen, haben Freunde getroffen, waren mehrmals in der Woche tanzen."

Das sagen auch Johannes Witoschek, der die Frage nach dem Ausgehen mit "natürlich, nur!" beantwortet, und Susanne Schneider, die damals am liebsten in den "Schuppen", das Haus der Jugend, ging. Ob dort, in den "Linden", in den Clubhäusern von Kema, Maschinen- und Waggonbau oder im Konzerthaus auf dem Lutherplatz – überall spielten Livebands und ließen die Jugendlichen zumindest teilweise an der Rockmusik des Westens teilhaben. Auch die Stadthalle bedeutet dieser Generation viel.

Konflikte und Entscheidungen

Dann wurden die '46er erwachsen. "Wir haben es uns so richtig schön gemacht", sagt Renate Schwarze, die Krankenschwester lernte, heiratete, Kinder bekam. Johannes Witoschek ging nach Berlin, wollte Regisseur werden, doch der Kreis, in dem er sich bewegte, kam mit dem Staat in Konflikt, sodass er Ökonomie studierte und 1973 das Raumausstattergeschäft seines Vaters auf der Jakobstraße übernahm.

Susanne Schneider wurde Russischlehrerin, hielt engen Kontakt nach Berlin, wo sie ihre Liebe zu Kultur und Theater auslebte. An einer Schule in Weinhübel gab sie all ihr Interesse, ihre Offenheit und ihre Energie an die Schüler weiter. Bernd Barthel wurde in Berlin Tierarzt und arbeitete in der Forschung. Auch er kam in Konflikt mit der Regierung, da er als Bienenzüchter den Einsatz bestimmter Insektizide ablehnte. In den 1980ern kam auch er zurück und übernahm das Geschäft seines Vaters in Niesky.

Die politische Wende 1989/90 brachte für alle große Veränderungen mit sich. Ein jeder hatte auf seine Weise die letzten DDR-Jahre als lähmend und den Mauerfall als befreiend empfunden. Renate Schwarze ging in die Politik, wurde Bürgermeisterin, erst in Görlitz, später in Hoyerswerda: die größte berufliche Herausforderung ihres Lebens. Susanne Schneider wurde Schulleiterin, genoss es, kein Blatt mehr vor den Mund nehmen zu müssen und neue Lernmethoden abseits des Frontalunterrichts etablieren zu können.

Tätigsein verbindet die 1946er

Johannes Witoschek musste erleben, sein Geschäft, das er in Zeiten der Mangelwirtschaft geschickt betrieben hatte, nicht mehr halten zu können. Ab Mitte der 1990er etablierte er sich als Gastwirt und setzte sich als Stadtrat für seine Branche ein. Bernd Barthel bedauert heute manchmal, wie sich die Dinge gewandelt haben, vor allem, wie große Einkaufszentren den Handel in den Innenstädten zerstören. Deshalb wird er nicht müde, sich ehrenamtlich zu engagieren.

Tätig sein: Das ist etwas, das alle vier '46er verbindet. Keiner wirkt wie 75 Jahre alt. Renate Schwarze schied erst 2019 aus dem Görlitzer Stadtrat aus. Susanne Schneider war bis vor wenigen Jahren Vorsitzende des Viathea-Fördervereins. Und Johannes Witoschek hat mit 73 mit dem "Nikolaicafé" noch mal einen Neustart gewagt.

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