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Wie es eine Görlitzer Idee auf die Weltausstellung in Paris schaffte

Um Bettelei Einhalt zu gebieten, gründete Görlitz 1885 die Naturalverpflegungsstation. Bedürftige bekamen statt Almosen eine Arbeit.

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Die Bettelei beschäftigte Görlitz bereits im 19. Jahrhundert. Auf diesem Symbolbild bedankt sich ein Bettler in der Fußgängerzone für Geldspenden.
Die Bettelei beschäftigte Görlitz bereits im 19. Jahrhundert. Auf diesem Symbolbild bedankt sich ein Bettler in der Fußgängerzone für Geldspenden. ©  dpa / Symbolbild

Von Ratsarchivar Siegfried Hoche

Das Wirtschaftswachstum der Gründerzeit endete im sogenannten „Gründerkrach“ 1873. Mit einem Schlag zogen durch Deutschland Arbeitslose, die sich mit Tagelöhnerei oder Bettelei ernähren mussten. Trunksucht und Kriminalität gehörten zum Alltag. Allein in Görlitz klingelten über 8.000 „Wanderbettler“ an den Türen und baten um Almosen. Viele Bürger fühlten sich „belästigt“.

Deshalb gründete man einen „Verein gegen Verarmung und Bettelei“. Gegen einen Jahresbeitrag erhielten dessen Mitglieder ein rotes Schild, das Bettler aufforderte, sich im Rathaus zu melden, wo nach Prüfung ihrer Bedürftigkeit ein einmaliges „Stadtgeschenk“ von 18 Pfennigen ausgereicht wurde. Von diesem Geld konnte man sich aber auch damals nicht ernähren. 500 Gramm Brot kosteten zum Beispiel in jener Zeit elf Pfennige.

Der Theologe Friedrich von Bodelschwingh gründete 1874 in Bielefeld eine Anstalt und später „Arbeiterkolonien“, in denen Wanderarbeiter gegen Arbeitsleistung Nahrung, Kleidung, Bad und Unterkunft erhielten. Am 7. Oktober 1885 entstand nach diesem Grundsatz „Arbeit statt Almosen“ und durch die Anregung des Magistrats eine „Naturalverpflegungsstation“ im Görlitzer Karpfengrund 5. Bis März 1886 fanden dort 1.585 Wanderer Aufnahme. Für zunächst drei Stunden Arbeit gewann man Anspruch auf Vesper, Abendbrot und Frühstück sowie ein Nachtquartier.

So sah die Natural-Verpflegungs-Station aus.
So sah die Natural-Verpflegungs-Station aus. © Ratsarchiv / Robert Scholz

Alkohol war verboten, das Tischgebet Pflicht. Die Arbeit bestand vor allem im Holz spalten. Der Verkauf des Feuerholzes trug zur Finanzierung des durch einen Verein getragenen Unternehmens bei. Später gründete man auch ein Schreibbüro, in dem befähigte Wanderer Schreibarbeiten fertigten. Der langjährige Vorsitzende des Vereins, Pastor Braune, hinterließ sarkastische Jahresberichte.

Die Arbeit in der Naturalverpflegungsstation war ein Fortschritt gegenüber menschenunwürdiger Bettelei. Auf der Pariser Weltausstellung des Jahres 1900 durfte sich der Görlitzer „Verein für die Naturalverpflegungsstation“ sogar als vorbildliche Einrichtung präsentieren. Im Grunde finden wir in Arbeiterkolonien und Naturalverpflegungsstationen bereits Keime für das, was sich heute sperrig Arbeitsbeschaffungsmaßnahme nennt. Der Weg zum Sozialstaat war aber noch lang.