Was fotografieren, wenn das öffentliche Leben zurückgefahren wird? Corona hatte auch ungeahnte Folgen für die Fotos in der SZ. Aber natürlich ergab die Pandemie auch Aufnahmen, die es sonst nicht gegeben hätte. Auf Manches hätten wir gern verzichtet. Und doch erzählten die Bilder des Jahres lauter Geschichten. Der Dank gilt den Fotografen Nikolai Schmidt und André Schulze.
Geschichten vor Corona
Auch wenn man es fast schon vergessen hat, es gab ein Leben vor Corona. Da war auch nicht alles frei von Problemen. Aber es ging seltener um Leben und Tod. Manchmal auch nur um einen Bon. Die neue Bonpflicht für Einzelhändler nervte viele so sehr, dass sie dagegen rebellierten. Zumal die Kunden darauf oftmals keinen Wert legten und sich so Berge von Bons in den Läden sammelten. Manche gestalteten daraus kunstvoll Schaufenster, manche hielten einfach nur verärgert eine Bon-Rolle dem Fotografen ins Objektiv.
Und noch ein Aufreger: Manöver auf dem Truppenübungsplatz Oberlausitz, gleich am Anfang des Jahres landeten holländische Truppen. Zudem beschäftigte ein großes US-Manöver im Baltikum die Menschen, über Wochen wären die Truppen über die A 4 in den Osten verlegt worden. Doch dann kam Corona: das Manöver fiel aus.
Zugleich startete das öffentliche Leben wie jedes Jahr: mit Neujahrsempfängen. In Niesky und Görlitz, bei Parteien, in der Wirtschaft und bei den Kirchen. Gute Wünsche wurden ausgetauscht, Vorhaben vorgestellt, Pläne geschmiedet. Corona war ja noch so weit weg.
Grenz-Geschichten
Es gibt viele Fotos von der ersten Welle der Pandemie in Görlitz und Niesky. Sie sind ganz anders, als die aus dem Spätherbst. Viel weniger Krankenhäuser und Altenheime, dafür mehr Grenze. Die Schließung der Übergänge nach Polen durch die Warschauer Regierung griff tief in den Alltag der Menschen hüben wie drüben der Grenze ein. Während die Deutschen vor allem auf ihre Tank- und Zigaretteneinkäufe verzichten mussten, wurde es für viele Polen existenziell. Anfangs durften sie nicht zu ihren Arbeitsstellen im Landkreis Görlitz einpendeln. Über 10.000 Menschen betraf es.
Herzzerreißende Szenen spielten sich an den aufgestellten Grenzzäunen ab: Väter, die in Deutschland blieben, um zu arbeiten, herzten durch die Gitter ihre Kinder auf der Zgorzelecer Seite. Andere schlichen nachts durch die niedrige Neiße zu ihren Familien. Nur so ist zu verstehen, welche Freude sich in der Nacht zum 14. Juni entlud, als die Stadtoberhäupter von Görlitz und Zgorzelec, Octavian Ursu und Rafal Gronicz, demonstrativ mit Bolzenschneidern die Ketten durchschnitten und die trennenden Zäune auf der Altstadtbrücke beiseite rückten. Einer der Bolzenschneider ging anschließend in die Sammlung des Görlitzer Museums.
Wie sehr sich die Stimmung doch im Herbst und Winter drehte: Jetzt hieß es nicht Grenzen auf, sondern viele forderten, sie zu schließen. In Sorge, Infizierte aus Polen und Tschechien könnten das Virus einschleppen. Beweise dafür gibt es bis heute nicht.
Wetter-Geschichten
Nach einigen Dürrejahren fiel dieses Jahr gefühlt genau richtig aus: genug Regen, keine Hitzerekorde, sogar ein kleines Hochwasser an der Neiße - Alarmstufe 1 für 24 Stunden. Aber so einfach ist das eben nicht. Während der Boden an der Oberfläche nicht bei weitem so austrocknete wie in den Vorjahren, ist es tief im Innern sautrocken: Die Grafiken des Helmholtz-Instituts in Leipzig zeigen eindrucksvoll, dass in etwa einem Meter Tiefe es unverändert zu trocken ist. Ein „normales“ Jahr ändert daran wenig – zumal es in anderen Landesteilen auch tatsächlich wieder zu heiß und sonnig war.
Vor allem die Wälder und die Forstbesitzer waren die Leidtragenden. Borkenkäfer vermehrten sich zuhauf, befielen die Wälder - besonders schlimm in der Mitte des Landkreises wie in den Königshainer Bergen. Die Eigentümer konnten nur so schnell wie möglich roden und das Holz aus den Wäldern holen, damit die Käfer nicht auf den nächsten Bestand übersprangen. Bei so viel Holz auf einmal aber gingen die Preise in den Keller: Wer Wald besitzt, steht jetzt als armer Mann da.
Dass der Quitzdorfer Stausee austrocknete, war freilich auch Menschenwille und dem Ablassen des Sees durch die Landestalsperrenverwaltung geschuldet. Der Freistaat ist noch immer hin- und hergerissen, inwieweit nur die Staumauer saniert oder gleich der ganze See wieder in Schuss gebracht wird. Als man sich für die große Lösung in einem der nächsten Jahre entschied, floss zu wenig Wasser in den See, so dass Angler und Segler in diesem Jahr die Saison abschreiben konnten.
Und auch die traurig vertrockneten Gurkenpflanzen in der Hagenwerderer Gartenbaufirma Ahr waren nicht dem Wetter geschuldet. Wegen Corona konnten polnische Erntehelfer nicht über die Neiße – so vertrockneten die Gurken von Rüdiger Ahr und der Traum von einer guten Ernte.
Sommer-Geschichten
Was für ein kurzer Sommer des intensiven Aufatmens und des Verschnaufens: Schlesischer Tippelmarkt, Folklorum, Seebühne, Champions-League-Open-Air am See und dann noch ein Novum: Das Löbauer DJ-Duo Kyau & Albert (links) boten Sitz-Diskothek im Görlitzer Kühlhaus. Ursprünglich entstammt diese Corona-Variante der Unterhaltung aus den Niederlanden. Das weit gereiste Pop-Duo importierte es an die Neiße – mit nur bedingtem Erfolg.
Wer allerdings den Läuferpulk vom Firmenlauf vom 18. September sieht, der fragt sich im Rückblick schon: Lebensfreude oder Leichtsinn? Wir werden es endgültig nie erfahren. Und das ist vielleicht auch ganz gut.
Demo-Geschichten
Noch nie ist im Laufe eines Jahres so viel demonstriert worden: Die Bauern gegen die tiefen Preise, die Jugend gegen die Klimakaltschnäuzigkeit der Alten, dunkelhäutige Menschen gegen vermuteten oder tatsächlichen Alltagsrassismus, Corona-Verharmloser gegen die Pandemie. Demonstrieren lag bis in die letzten Tage dieses angestrengten Jahres voll im Trend.
Vielleicht sollten wir uns für das nächste Jahr einfach vornehmen, den Elan der Demonstrationen mitzunehmen und anzupacken: Wenn Viele helfen, wird Vieles besser. Das könnte doch ein schönes Motto für 2021 werden.
Erfolgs-Geschichten
Ist es ein Jahr zum Vergessen? Das kommt immer auf die Perspektive an. Hoteliers, Gastronomen, Ladenbesitzer, Stadtführer - sie alle werden froh sein, dass 2020 endlich vorbei ist. Aber es gab auch Erfolgsgeschichten, viele Pläne konnten trotz Corona verwirklicht werden, manches Unternehmen profitierte sogar von dem neuen Coronavirus. Beispielsweise die Skan Deutschland GmbH in Görlitz, eine Tochter der Skan AG aus der Schweiz. Sie stellt Isolatoren her, in denen die Pharmaindustrie beispielsweise Medikamente produziert. Ihr Geschäft boomt derart, dass der Görlitzer Standort noch einmal ausgebaut wird.
Das Kodersdorfer Industriegebiet gilt schon seit Jahren als Aushängeschild für erfolgreiche Industrieansiedlungen im Landkreis Görlitz. In diesem Jahr kam auch ein Gütertransportzentrum dazu, wo künftig Güter vom Lkw auf die Schiene verladen werden. Damit die Lasterkolonnen nicht mehr so ärgern, und die Güter schneller von A nach B gelangen.
Das Klinikum in Görlitz konnte endlich sein neues Frauen-Mutter-Kind-Zentrum einweihen, das Werk 1 in Görlitz wurde fertiggestellt. Straßen wie die Görlitzer Bahnhofstraße oder über den Zinzendorfplatz in Niesky wurden saniert. Unternehmen erweitern sich, schaffen neue Jobs, auch in Sport- und Freizeiteinrichtungen wurde investiert. Ein verlorenes Jahr? Nein, es war auch ein Gutes.
Was kommen mag
War hier schon der Konflikt des Jahres zu spüren. Kaufhaus-Investor Winfried Stöcker diskutierte erregt mit dem Görlitzer OB Octavian Ursu bei dessen Neujahrsempfang Ende Januar. Stöckers Absicht, zwei Stadtvillen für ein größeres Parkhaus am Kaufhaus abzureißen, löste eine rege Debatte aus. Entschieden ist noch nichts.
Und auch das war 2020: Die Parteien formieren sich langsam für die Bundestagswahl 2020. Die AfD nominierte ihren Bundessprecher und Kreisvorsitzenden Tino Chrupalla als Direktkandidaten an der Neiße, die CDU ihren Kreisvorsitzenden Florian Oest. Am 26. September ist die Wahl, erst dann steht fest, wer künftig in Berlin regiert.
Die Themen bleiben uns also erhalten – wie so Vieles aus diesem verbrauchten Jahr.
Na dann, Prosit Neujahr. Kommen Sie gut ins neue Jahr 2021!