Wie Corona zum Dichten verführt

Gedichte zum Verarbeiten der eigenen Ängste und schmerzlichen Erfahrungen. Gedichte, um anderen Mut zu machen. Gedichte, um Gedanken zu bewahren, die in dieser einzigartigen Zeit entstehen.
Ganz verschiedene Gründe nennen Menschen, die während des Lockdowns begonnen haben, Gedichte zu schreiben, oder ihre frühere Liebe dazu wiederentdeckt haben. Zahlreiche Gedichte gingen in den vergangenen Wochen in der Leserbriefredaktion der Sächsischen Zeitung ein, so viele wie noch nie. Gedichte scheinen ein Weg aus der Isolation zu sein, und Corona ein Thema, über das sich dichten lässt.
Mut machen mit Gedichten
Cornelia Matton aus der Görlitzer Südstadt hat mehrere Texte eingereicht, ebenso Klaus Hausmann, der seit gut zehn Jahren in der Görlitzer Innenstadt lebt. "Mir hilft es, meine Sorgen und Nöte so zu verarbeiten", sagt Cornelia Matton, "durch das Schreiben kann ich sie besser bewältigen und mich davon ablenken." In ihrer Kindheit und Jugend habe sie öfter Gedichte geschrieben, sei auch zu Anlässen immer mal darum gebeten worden. Später geriet das in Vergessenheit, Arbeit und Kinder waren wichtiger.
"Aber in den vergangenen Wochen kam das Bedürfnis wieder hoch", sagt die 61-jährige Verwaltungsangestellte. Sie habe Respekt vor der Corona-Pandemie und fürchte sowohl eine Ansteckung als auch die langfristigen Auswirkungen des Lockdowns. "Ich vermisse meine Kinder, die ich seit Monaten nicht gesehen habe", sagt sie. "Und dass jetzt viele Firmen den Bach runtergehen und viele Menschen in Kurzarbeit sind, macht mir zu schaffen."

Diese Sorge spiegeln ihre Verse wider. "Die Zeiten mit Corona sind sehr schwer, viele Menschen irren ziellos umher", heißt es zum Beispiel. Oder: "Wie lange müssen wir noch hoffen und bangen, bis wir unser normales Leben wieder zurückerlangen?" Cornelia Matton benennt vieles, was die meisten Menschen gerade umtreibt, das Satthaben, das Beklagen, das Allesbesserwissen und das allmähliche Entgleisen des Lebens.
Aber sie will auch Hoffnung machen. "Wir dürfen nicht aufgeben", sagt sie und ruft dazu auf, "gemeinsam den Blick nach vorne" zu richten. "Dann schaffen wir es auch, das Virus endlich zu vernichten!"
Pandemie bringt absurde Szenen hervor
Klaus Hausmann, ein ehemaliger Lehrer, der wegen des kulturellen Reichtums der Stadt mit seiner polnischen Partnerin von Hildesheim nach Görlitz kam, formuliert seine Gedichte weniger als Appell. "Sobald mir etwas einfällt, das ich festhalten möchte, schreibe ich es auf", sagt der 75-Jährige. Die Corona-Pandemie gebe dazu häufig besonderen Anlass.
Ihn beschäftigt, dass die Zeit im Lockdown kaum noch eine Rolle spielt. In seinem Gedicht "Zeitfresser" bezeichnet er sie als "Zeitenbrei" und "das ständige Einerlei mit der mutierten Soße". In einem anderen Gedicht hat er die Begegnung mit einer älteren Dame vorm Supermarkt verarbeitet, die ihre Maske vergessen hatte, darüber erschrak und sagte: "Dabei denke ich doch jeden Morgen 'Maskenball in Venedig'". Dass sich einige Menschen gern im Dunklen ohne Maske durch die Stadt bewegen, hat Klaus Hausmann zu einem Gedicht über Mondsüchtige inspiriert, die nachts von den Dächern steigen.
Und er würdigt die Bücherboxx am Wilhelmsplatz, die in dieser Zeit so an Bedeutung gewinne, dass die Menschen davor Schlange stehen. "Möglich, in pandemischer Zeit, ist hier eine kleine Freiheit, und die Moral von der Geschicht: Ein Leben auch auf kleinstem Raum erfüllt so manchen großen Traum."

Solche absurden Situationen wie vor dem Supermarkt oder der Bücherboxx seien ohne die Pandemie nicht möglich, sagt Klaus Hausmann. Dass man außerdem im Lockdown wenig Anregung von außen, etwa durch Veranstaltungen habe, führe dazu, dass man mehr zu sich finde und kreativ werde. Seine Partnerin etwa gehe gerade viel spazieren und finde in der Natur Dinge, aus denen Sie Kunstobjekte herstellt.
Jugendliche schreiben düstere Texte
Die Spoken-Word-Künstlerin Jessy James LaFleur, die seit einiger Zeit in Görlitz lebt, arbeitet vor allem mit Jugendlichen in Workshops, die sie zum Schreiben und Vortragen eigener Texte ermutigen. Schulen in Deutschland und Belgien haben ihre Workshops gebucht. Sie sagt, für die Jugendlichen könne sie nicht bestätigen, dass sie mehr Gedichte schreiben, zumindest nicht aus der Leere des Lockdowns heraus.
"Sie haben überhaupt keine Lust, sich von sich aus kreativ zu betätigen", sagt sie. Die meisten Jugendlichen seien im Moment einfach zu: mit Homeschooling, mit dem Alleinsein, mit der Bewegungslosigkeit. Sie seien so müde und lustlos, wie es Jugendliche nur sein können.

"Aber wenn sie dann mal ins Schreiben kommen, tut es ihnen gut", sagt Jessy James LaFleur. Denn Schreiben biete die Chance zu entkommen, könne erlösend und befreiend wirken. Allerdings seien die Texte, die Jugendliche im Rahmen ihrer Workshops schreiben, teilweise so düster, wie sie es noch nie erlebt habe. "Es geht um Depression, Isolation, Einsamkeit, Überforderung, Ziellosigkeit und alles, was die Krise mit ihnen macht", sagt sie. "Viele schreiben darüber, wie sie gerade dabei zuschauen, dass ihre Jugend an ihnen vorbeizieht."
Mitteilungsbedürfnis ist im Lockdown groß
Auch sie selbst fühle sich durch den Lockdown eher gelähmt. "Ich habe viele Ideen, aber es fällt mir unfassbar schwer, etwas aufzuschreiben", sagt Jessy James LaFleur, "weil ja auch die Auftrittsmöglichkeiten fehlen." Genau das könne andererseits der Grund dafür sein, dass Menschen gerade mehr Gedichte an Zeitungen schicken. "Das Mitteilungsbedürfnis der Menschen ist im Moment sehr groß." Und wenn man etwas für sich selbst Befreiendes geschrieben habe, wolle man, dass auch andere sich beim Lesen besser fühlen.
Weil man sich aber ohne Begegnungen nicht mitteilen könne, schon gar nicht öffentlich, posteten manche in den sozialen Medien mehr kreative Texte als sonst. "Und für andere sind Zeitungen gerade der einzige Ort, an dem ihre Gedichte öffentlich werden können."