Görlitz
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Warum Kunnerwitzer Glocken am Mittwoch länger läuten

Vor 100 Jahren ersetzte die Gemeinde der Erlöserkirche ihren Kriegsverlust. Statt Bronze läutet seitdem Stahl im obersten Kirchturmstübchen.

Von Ines Eifler
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Uwe Mader war von 1978 bis 2006 Gemeindepfarrer in Kunnerwitz und seit 1991 Polizeiseelsorger.
Uwe Mader war von 1978 bis 2006 Gemeindepfarrer in Kunnerwitz und seit 1991 Polizeiseelsorger. © Martin Schneider

Schon der Weg zu den Glocken der Kunnerwitzer Kirche ist eine kleine Zeitreise. Die gut 100 Stufen steigt Uwe Mader bedächtig hinauf, immerhin ist der ehemalige Pfarrer der Evangelischen Gemeinde Kunnerwitz 79 Jahre alt und die Turmmauern halten die Hitze schon nicht mehr ab nach mehreren Tagen über 30 Grad Celsius.

Auf halber Treppe unterhalb des Glockengeläuts zeigt er auf einen großen dreieckigen Holzkasten. "Darin schwang früher das Pendel der Kirchturmuhr", sagt Uwe Mader. Daneben verlaufen riesige Flaschenzüge, an denen wie bei Standuhren täglich Gewichte hinaufgezogen werden mussten. Fast oben angekommen, öffnet Pfarrer Mader eine Holztür, die aussieht, als führe sie zu einem alten Kleiderschrank. Aber sie verbirgt das große Uhrwerk, das die Zeiger dreht und dafür sorgt, dass die Stundenglocke pünktlich schlägt.

Uhrwerk der Kirchturmuhr der evangelischen Erlöserkirche in Kunnerwitz.
Uhrwerk der Kirchturmuhr der evangelischen Erlöserkirche in Kunnerwitz. © Martin Schneider

"Wenn unsere Glocke nicht läutet", sagt Pfarrer Mader, "dann kommen Kinder zu spät zur Schule, dann klingelt im Pfarrbüro von Pfarrer Wollstadt sofort das Telefon, dann beschweren sich Nichtchristen genau wie Gemeindemitglieder und fragen, was los ist."

Schon außen auf der Tür zum Uhrwerk hat sich jemand mit seinen Initialen und einer Jahreszahl verewigt. Innen stehen weitere Namen an den Wänden, viele davon kennt Uwe Mader persönlich. Es sind die Namen der Jungen und Männer, die über Jahre hinweg Tag für Tag bis hier heraufgestiegen sind, um das Uhrwerk der Kirchturmuhr per Handkurbel aufzuziehen. "Und ich weiß, was das bedeutet", sagt Mader, denn er selbst war als Jugendlicher "Läutejunge" in der Görlitzer Lutherkirche.

Über 100 Jahre lang haben viele derjenigen ihre Namen und Jahreszahlen in der Uhrwerkkammer im Glockenturm hinterlassen, die täglich per Handkurbel die große Uhr aufzogen. Eine der ältesten Inschriften stammt aus dem Jahr 1903.
Über 100 Jahre lang haben viele derjenigen ihre Namen und Jahreszahlen in der Uhrwerkkammer im Glockenturm hinterlassen, die täglich per Handkurbel die große Uhr aufzogen. Eine der ältesten Inschriften stammt aus dem Jahr 1903. © Martin Schneider

Heute sind Uhr und Glocken längst elektrifiziert, etwa seit 2006, als Pfarrer Uwe Mader offiziell in den Ruhestand ging. Die ältesten Inschriften stammen aus den Jahren 1895 und 1903. Wer das schrieb, hat noch die alten Bronzeglocken kennengelernt, deren Verlust Pfarrer Mader bis heute bedauert. "Der weiche Klang einer Bronzeglocke ist nicht zu ersetzen", sagt er, "besonders die Inschriften darauf sind für immer verloren."

Bronzeglocken wurden eingeschmolzen

Die Glocken waren 1838, kurz nach der Gründung des Pfarrspiels Jauernick-Cunnerwitz mit dem Bau der Erlöserkirche in Betrieb genommen worden. Zwei von ihnen wurden im Ersten Weltkrieg eingeschmolzen wie so vieles, das die Deutschen für die Rüstungsindustrie hergeben mussten.

"Allein 1.090 Tonnen Bronze von Glocken sind damals an der Front verschossen worden", sagt Uwe Mader, nun auf dem Weg zur obersten Etage des Glockenturms. Hier fällt nur Licht herein, wenn man die Fenster öffnet, weil es kein elektrisches Licht gibt, und hier hängen die treuen Stahlglocken der Erlöserkirche.

Glocken läuten am Mittwoch länger als üblich

Damit nach dem Ersten Weltkrieg wieder drei Glocken in Kunnerwitz läuten konnten, musste die Gemeinde ihre verbliebene letzte Bronzeglocke in Zahlung geben. Vermutlich wurde sie später im Zweiten Weltkrieg ebenfalls für Rüstungszwecke eingeschmolzen. Am 23. Juni 1921 wurden drei neue Stahlglocken in der Stimmung fis–a–c mit den Namen Liebe, Glaube und Hoffnung in den Dienst genommen.

Zur Erinnerung an diesen Tag vor genau 100 Jahren läuten sie an diesem Mittwoch länger als üblich: zehn statt fünf Minuten zu den gewohnten Zeiten sieben, zwölf und 18 Uhr. Dem Morgengeläut wird mittags die kleine Glocke hinzugeschaltet, am Abend ist das volle Geläut zu hören. Im Gottesdienst am 27. Juni, 9 Uhr, begibt sich Pfarrer Uwe Mader noch einmal mit der Gemeinde auf eine Zeitreise.