Schon mit der ersten von acht Broschüren zur Görlitzer Stadtgeschichte war der Erfolg garantiert. Als Ernst Kretzschmar zunächst 1977 an eine Ausstellung über das Görlitz um die Jahrhundertwende ging und ein Jahr später dann auch die Broschüre zur Schau bei den Kunstsammlungen herausbrachte, da war das für Görlitz etwas völlig Neues.
Erstmals erfuhren die Görlitzer in einer nie zuvor gekannten Breite, was sich in ihrer Stadt vor 80 oder 100 Jahren abspielte, sie sahen und lasen von Unternehmern und Oberbürgermeistern, über die in der DDR nur wenig berichtet wurde. Endlich wurde darüber erzählt, was sie im Alltag sehen konnten: Wer all die historischen Bauten der Gründerzeit geschaffen hatte. 30.000 Menschen sahen sich allein die erste von acht Ausstellungen bis Ende der 1980er Jahre an, museumspädagogische Angebote mit Ingrid Rosin taten ihr Übriges. Es war ein Riesenerfolg, die acht Hefte fehlen noch heute in keinem Görlitzer Haushalt, der sich für die Stadtgeschichte interessiert.
So prägte Kretzschmar den Blick auf die Görlitzer Historie des 19. und 20. Jahrhunderts wie kein Zweiter. Bis ins hohe Alter blieb er geistig agil und war - seines geschwinden Schrittes wegen - im Stadtbild nicht zu übersehen. Erst in den letzten Wochen, nach einem Sturz, forderte das Alter seinen Tribut. Am Freitag ist er nun 87-jährig in einem Görlitzer Altenheim gestorben.
Er nutzte die Gunst der Stunde
Kretzschmar nutzte geschickt die neuen Spielräume, die eine veränderte Sicht auf die Geschichte durch die Staatspartei SED Ende der 1970er und dann noch stärker in den 1980er Jahren möglich machte. Der alte Fritz kehrte auf sein Denkmal unter die Linden zurück, Luther und die Kirchen wurden nicht mehr als die Konterrevolution angesehen. Und wie in Frankreich, wo Historiker die Geschichte nicht mehr nur aus den Augen der Regierenden, sondern der Regierten erzählten, versuchte sich Kretzschmar in die Situation der Einwohner zu versetzen.
Dass da weniger Ideologie als noch vor Jahrzehnten mitschwang, dass der Kapitalismus nicht nur als absterbend, parasitär und faul dargestellt wurde, wie sie es im leidigen Staatsbürgerkundeunterricht auswendig lernen mussten, spürten die Menschen. Kretzschmars Renommee als Stadthistoriker lebte immer davon. In unzähligen Vorträgen, Aufsätzen, Führungen oder Spielszenen hat Ernst Kretzschmar dieses Vertrauen wiederum zurückgegeben und die Görlitzer oder überhaupt die Interessierten in vergangene Zeiten mitgenommen, als wenn er sie selbst erlebt hatte. So gewann er den Titel eines Stadthistorikers, den ihm niemand verliehen hatte, aber die Görlitzer ganz selbstverständlich verwendeten.
Drei Leben in einem
Und tatsächlich hatte er viel erlebt. 1933 in der Grenzmark zwischen Posen und Brandenburg geboren, das nach 1945 Polen zugeschlagen wurde, kam er 1946 nach Görlitz. Sein Vater stammte aus Görlitz. Doch starb er bereits 1940, so kam die Familie nach dem Krieg bei der Großmutter unter.
Görlitz kannte Kretzschmar aus der Vorkriegs- und Kriegszeit von Besuchen. Zum ersten Mal die Stadt wirklich wahrgenommen, so berichtete er später in der SZ, habe er sie im August 1938. An seinem fünften Geburtstag sah er am Vormittag Adolf Hitler in Berlin - und saß am Nachmittag am Kaffeetisch bei der Großmutter in Görlitz. Bis auf sein Studium in Potsdam verbrachte er sein ganzes Leben in der Stadt an der Neiße, so dass er mit Fug und Recht immer als Görlitzer galt, obwohl er aus Meseritz stammte.
Sein Weg war holprig, erinnerte sich jetzt auch der Görlitzer Ratsarchivar Siegfried Hoche an Ernst Kretzschmar. Tatsächlich waren es drei Leben in einem, mindestens. Zunächst lehrte er Deutsch und Geschichte an der Erweiterten Oberschule am Karl-Marx-Platz, dem heutigen Joliot-Curie-Gymnasium. Er galt bei vielen seiner Schüler als besonders linientreu. Später führte er das auf die Prägungen im Studium durch viele Menschen aus dem kommunistischen Widerstandskampf zurück.
Als sein privater Lebensentwurf mit den Konventionen der DDR in Spannung geriet, war es der Görlitzer Museumsdirektor Ernst-Heinz Lemper, der Kretzschmar an die Städtischen Kunstsammlungen holte und wo er seine Berufung fand.
Und schließlich blühte er nochmals nach seiner Zeit im Stadtmuseum auf. Er führte Görlitzer auf die andere Seite der Neiße und berichtete über die Geschichte der Oststadt, rehabilitierte die Militärgeschichte der Stadt, er gab den Erzähler Schachmann bei den Sagenspielen in Königshain, verkleidete sich bei den Museumsnächten in der Neißstraße und wies niemanden zurück, der eine Frage zur Geschichte hatte. Die SZ nannte ihn zu seinem 80. Geburtstag im August 2013 den "Wandelbaren". Und er hielt mit vielen Görlitzern Kontakt, die ihre Heimatstadt aus vielfältigen Gründen in den zurückliegenden Jahrzehnten verlassen hatten.
Impulse der Geschichte auch für den Wiederaufbau
Ähnliche Renner wie die acht Broschüren zur Görlitzer Stadtgeschichte wurden gleich nach der Wende noch zwei Bücher mit Ansichtskarten aus den Jahren 1900 bis 1940. Die Texte darin verraten zum einen, in welcher Rolle Kretzschmar sich in der Phase der Neuorientierung selbst sah und zum anderen aber auch, welchen Blick er auf Görlitz hatte. So schrieb er 1991, dass die "Abbildungen eine Brücke zum Heute schlagen und uns in dem Willen bestärken, sie durch eine behutsame Stadterneuerung als vertrauten Lebensraum für uns und kommende Generationen zu bewahren. Denn Görlitz ist eine Stadt mit Zukunft." Und im zweiten Band hieß es: "Die Stadt hat bessere Zeiten gesehen und bessere Zeiten vor sich."
Diesen Optimismus zog der promovierte Historiker aus den Höhen und Tiefen der Geschichte. Er spürte immer wieder Impulsen in ihr nach, seien es die preußischen Tugenden oder die Schlesien-Verbundenheit - alles Dinge, die zu DDR-Zeiten verschwiegen oder ideologisch belastet umgedeutet worden waren. Als die Politik sich gleich nach der Wende daran machte, Görlitz als Erinnerungsort an das deutsche Schlesien zu kreieren, da gab ihr Kretzschmar den nötigen historiografischen Rückenwind: "Hätten nicht die Siegermächte 1945 durch einen gewaltsamen Einschnitt, die Oder-Neiße-Linie, Görlitz von seinem östlichen Hinterland abgetrennt, käme heute niemand auf den Gedanken, die Bindung der Stadt an Schlesien in Zweifel zu ziehen".
Vor wenigen Jahren erinnerte er sich in einer Ausstellung über das Zusammenleben von Deutschen und Polen an der Neiße. Zusammen mit Hanna Majewska. Es wirkt wie ein Wink der Geschichte, dass sie beide innerhalb von wenigen Tagen hintereinander gestorben sind.