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Berliner Paar entdeckt Görlitz auf Probe

Was eine gebürtige Russin und einen Schweizer an die Neiße führt und warum ihre Zeit hier nur von kurzer Dauer sein wird.

Von Daniela Pfeiffer
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Fotograf Mario Heller mal vor der Kamera - zusammen mit seiner Partnerin, der Autorin Wlada Kolosowa.
Fotograf Mario Heller mal vor der Kamera - zusammen mit seiner Partnerin, der Autorin Wlada Kolosowa. © Paul Glaser/glaserfotografie.de

Die Journalisten Wlada Kolosowa und Mario Heller wohnen seit drei Wochen mit ihrem Baby in der Südstadt. Sie möchten das Görlitzer Probewohnen dafür nutzen, um nicht nur die Stadt kennenzulernen, sondern beide kommen mit spannenden Projekten, die sie hier umsetzen möchten: Bei Wlada Kolosowa geht es um Nachhaltigkeit, Fotograf Mario Heller sucht interessante Menschen und ihre Geschichten. Wir stellen beide vor.

Autorin entdeckt Görlitz bei der Recherche für sich

Autorin Wlada Kolosowa auf dem Balkon ihrer Görlitzer Wohnung.
Autorin Wlada Kolosowa auf dem Balkon ihrer Görlitzer Wohnung. © Paul Glaser/glaserfotografie.de

Der Ausblick vom Balkon ist schon mal nicht schlecht. Wenn Wlada Kolosowa dort steht, hat sie genau die Kathedrale St. Jakobus vor sich. Aber auch drinnen in der Wohnung auf der Zittauer Straße lässt es sich leben. Eine geräumige Vier-Zimmer-Wohnung haben Wlada und ihr Partner Mario Heller für drei Monate gegen ihr Zuhause in Berlin-Neukölln eingetauscht. Sie gehören zu denjenigen, die neugierig auf das Projekt Probewohnen geworden waren, sich bewarben und angenommen wurden.

Das Interesse an Görlitz kam bei Wlada durch einen siebentägigen Rechercheaufenthalt im vergangenen Jahr. Da berichtete die 35-jährige Berlinerin über die Stadt und wie sie sich nach den schwierigen Nachwende-Jahren wieder aufrappelte und heute wieder Zuwachs hat. Die Fotos dazu schoss ihr Lebenspartner Mario Heller. Sie wollten mehr von dieser Stadt sehen und weil sie das Projekt „Stadt auf Probe“ spannend fanden, bewarben sie sich. Einer der Projektpartner in der Stadt ist die Städtische Wohnungsgesellschaft Kommwohnen, die unter anderem auch die Wohnung auf der Zittauer Straße zur Verfügung stellt. Allerdings ist die Wohnzeit auf Probe an eine Bedingung geknüpft: Teilnehmer sollen Görlitz mit eigenen Ideen und Projekten auf dem Weg zu mehr Nachhaltigkeit unterstützen. Dafür läuft zwischen Oktober 2021 und März 2023 das Projekt „Stadt der Zukunft auf Probe – Ein Wohn- und Arbeitsexperiment für ein klimaneutrales Görlitz“.

Wlada Kolosowa möchte abgetragener Kleidung ein zweites Leben einhauchen. Ihre ursprüngliche Idee, in Görlitz dafür einen Verschenke-Schrank aufzustellen, hat sie allerdings verworfen. „Dafür brauchte es ein Team, das sich darum kümmert, vor allem, wenn ich wieder weg bin“, sagt sie. Zudem sei die Vermüllungsgefahr zu groß.

Und so wird es stattdessen nun Klamottentauschpartys geben, die erste am 3. Juni. Wenn das gut angenommen wird, auch weitere. Zudem sucht die Mutter einer fünf Monate alten Tochter aktuell noch nach einer Näherin oder Hauswirtschafterin, die Interessierten zeigt, wie kaputte Kleidung wieder gestopft werden kann.

Ein kleines Netzwerk hat sie bereits aufgebaut. „In Görlitz ist das nicht so schwierig, kennt man einen, kennt der wieder einen und so weiter“, sagt die Autorin. In Russland geboren kam sie mit ihrer Familie im Alter von zwölf Jahren nach Cottbus, lebte später in Ulm, studierte in Berlin Kommunikationswissenschaften und Psychologie und später zwei Jahre Kreatives Schreiben in New York. Aktuell arbeitet sie an ihrem zweiten Roman. Der erste heißt „Fliegende Hunde“ und bekam gute Kritiken. Als freie Autorin arbeitet sie zudem für Spiegel Online und den Tagesspiegel.

Ihr Vater lebt noch in Russland und der Ukraine-Krieg treibt Wlada Kolosowa natürlich auch in Görlitz um. „Das ist unvertretbar und schrecklich“, sagt sie. „Putin hat die Zukunft von so vielen Menschen kaputtgemacht - in der Ukraine und in Russland.“ Sie selbst versuche nun, ukrainischen Frauen zu helfen.

Kleidertauschparty: am 3. Juni, 19 Uhr, in den Räumen der Flint*erie (Leipziger Str. 23). Eingeladen sind Frauen, Intersex-, nicht-binäre und Transmenschen.

Schweizer Fotograf sucht Görlitzer Gesichter

Fotograf Mario Heller lebt eigentlich in Berlin, aktuell aber für drei Monate in Görlitz.
Fotograf Mario Heller lebt eigentlich in Berlin, aktuell aber für drei Monate in Görlitz. © Paul Glaser/glaserfotografie.de

Ist die Südstadt nicht vielleicht ein bisschen weit entfernt vom Zentrum? Diese kleine Sorge hat Mario Heller längst nicht mehr. Im Vergleich zu Berlin ist Görlitz klein, ruhig und entspannt. Und familienfreundlich. „Das ist Berlin zwar auch, aber dort gibt es so viele Familien, dass es auch einige Nachteile hat: die Parks sind voll, die Kitas auch, man bekommt schwer einen Termin beim Kinderarzt.“ Das alles ist in Görlitz entspannter. Ein eigenes Auto haben Mario Heller und Wlada Kolosowa zwar nicht, aber sie kommen auch ohne gut zurecht. Und dann gibt es noch das Motorrad, das Mario Heller mitgebracht hat.

Sie sind richtig angekommen in Görlitz, wo sie jetzt seit drei Wochen wohnen. Das mit den Kontakten wird langsam, er suche immer noch nach spannenden Menschen und ihren Geschichten. Das ist die große Leidenschaft des gebürtigen Schweizers, der mit 26 Jahren nach Berlin zog. Er ist viel in der Welt unterwegs, fotografiert Menschen in ihrer Umgebung und illustriert mit seinen Fotos Reportagen. Seine Leidenschaft gilt vor allem Osteuropa - die teilt er mit seiner Partnerin. „Ich habe mich schon immer für die russische Literatur interessiert, ich mag einfach osteuropäische Länder, lerne auch Russisch“, erzählt er.

Kurz vor Ausbruch der Corona-Pandemie reiste er drei Wochen im Zug durch Kasachstan und brachte beeindruckende Bilder und Geschichten mit. Ähnliches hat der 30-Jährige nun in Görlitz vor. Er sucht sie: die Ur-Görlitzer, die sich von ihm fotografieren lassen und ein wenig über ihr Leben in der Stadt erzählen würden. Genauso gern dürfen es aber auch die Zugezogenen sein mit ihren Erfahrungen, was die Stadt mit und aus ihnen gemacht hat. Er sei ja selber einer, zugezogen in Berlin und nun - wenn auch nur für kurze Zeit - in Görlitz.

Die ersten Görlitzer Gesichter sind inzwischen im Kasten. Je nachdem, wie erfolgreich die weitere Arbeit hier in Görlitz ist, möchte Mario Heller die Bilder gern öffentlich zeigen - vielleicht auf Litfaßsäulen in der Stadt, vielleicht in einer Ausstellung. Dafür würde er nach den drei Monaten Probewohnen gern noch einmal nach Görlitz kommen.

Er und seine Partnerin haben Görlitz im Freundeskreis schon angepriesen, einige wollen zu Besuch kommen. Vielleicht sind unter den Besuchern auch die Eltern aus der Schweiz. Sie haben schon früh gewusst, dass Sohn Mario eine kreative Ader hat. Als Junge hat er bereits fiktive Geschichten geschrieben. „Meine Eltern haben die mir dann abgekauft“, erzählt er. Doch bevor er tatsächlich Journalist wurde, lernte Mario Heller den Beruf des Bäckers und Konditors. Heute arbeitet er - nach vielen Stationen bei anderen Medien - als Photo-Editor beim Tagesspiegel und als Photography Director beim Magazin Lola. Seinen Urlaub nutzt er, um jährlich mindestens ein größeres Fotoprojekt im Ausland zu machen. So finden sich auf seiner Webseite auch Geschichten aus dem Pamir, dem Kosovo oder Moskau.

Wer sich von Mario Heller gern fotografieren lassen möchte, kann sich melden unter: Email: [email protected] oder über instagram heller_mario