Bis 1.500 schrieb sie jedes Baby in ein Büchlein ein. Dann nicht mehr. "Heute bereue ich, dass ich das nicht weitergeführt habe", sagt Regine Werwoll. Nach 40 Dienstjahren wäre sie gern mit einer Zahl in den Ruhestand gegangen. So kann die leitende Hebamme des Städtischen Klinikums nur sagen, dass es Tausende Kinder waren, denen sie auf die Welt verholfen hat.
Das waren nicht alles Görlitzer Babys. Frau Werwolls Weg fing nämlich woanders an. Sie stammt aus Lübbenau im Spreewald, lernte zunächst Krankenschwester in Cottbus. Aber nach einem Praktikum im Kreißsaal stand für die junge Frau fest: Ich will Hebamme werden. Sie verfolgte das Ziel konsequent - auch nach ihrem Umzug nach Greifswald. Im dortigen Krankenhaus drängte sie darauf, die Hebammenausbildung machen zu dürfen, was auch klappte. Sie wurde nach Rostock delegiert und durfte sich dort eineinhalb Jahre weiterqualifizieren und schließlich als Hebamme ihre ersten Mütter betreuen und Kinder zur Welt bringen.
Aus einem privaten Besuch in Görlitz wurde 1980 die Liebe zur Stadt. „Obwohl sie damals noch grau und hässlich war“, so Regine Werwoll. Sie kam nach Görlitz und begann hier am Klinikum. Damals war die Geburt noch etwas völlig anderes als heute - freilich nicht der biologische Vorgang, aber die Bedingungen. Die werdende Mutter sah man wirklich erst, wenn sie mit Wehen im Kreißsaal erschien. Vorheriges Kennenlernen etwa durch Vorbereitungskurse - das war damals nicht üblich.
Der Kreißsaal war auch nicht annähernd das, was er heute ist: heimelig gestaltet, mit warmen Farben und Bildern von Wald und Wiese, mit allen möglichen Annehmlichkeiten, die bei der Geburt helfen können. Nein, in den 1980ern sah er aus wie jeder OP-Saal. „Deswegen haben wir bei unseren Tagen der offenen Tür heute immer auch viel älteres Publikum, das völlig entzückt von den modernen Kreißsälen ist“, erzählt Frau Werwoll. „Ja es hat sich vieles verändert. Nur die Schmerzen sind geblieben.“ Und die gehören zu einer Geburt eben dazu, findet sie. Doch es gibt viel mehr Möglichkeiten, die Mutter dann zu unterstützen: mit schmerzlindernder Akupunktur beispielsweise oder Homöopathie, alternativen Gebärhaltungen.

Verändert - und zwar drastisch - hat sich auch die Zahl der geborenen Kinder. In den 1980ern - vor der großen Abwanderung junger Görlitzer - wurden um die 2.000 Kinder jährlich geboren. Das stärkste Jahr hatte sogar 2.300 Babys in der Statistik stehen. Heute sind die Hebammen froh, wenn es um die 800 sind. 2017 wurde das zuletzt erreicht, das gilt mit 847 Kindern als Rekordjahr. In den vergangenen drei Jahren waren es immer unter 800.
Was früher auch undenkbar war, ist heute völlig normal: dass der Vater die Frau zur Geburt begleiten kann. „Als das aufkam, waren wir Hebammen skeptisch, aber wir wurden eines Besseren belehrt“, sagt Regine Werwoll. „Die meisten Väter sind doch eine große Hilfe und kümmern sich gut. Schließlich können die Hebammen nicht die ganze Zeit bei der Mutter sein.“ So manche Geburt zieht sich eben über Stunden. Klar passiert es dann in der letzten Phase immer wieder mal, dass ein Vater kurz ohnmächtig wird. Dann wird sich eben schnell um ihn gekümmert und weiter geht es - ein heimliches Schmunzeln der versammelten Frauen inklusive.

Spätestens, wenn das neue Leben dann da ist, ist alles vergessen. Für Regine Werwoll ist das nach wie vor der schönste Moment, die beste Seite ihres Berufes. Vor allem, wenn es in so schöner Umgebung wie jetzt passiert. Nach drei Umzügen - 1997, 2014 und 2020 - ist Regine Werwoll in ihrem dritten Kreißsaal, besser gesagt in den drei Kreißsälen, angekommen und hat die letzten Monate ihres Arbeitslebens hier genießen können. Auch wenn das Jahr neben dem großen Umzug ins neue Frauen-Mutter-Kind-Zentrum natürlich auch sehr von Corona geprägt war. Testungen bei den Müttern, besondere Schutzmaßnahmen und nicht zuletzt das Besuchsverbot für die frisch gebackenen Väter prägten das Jahr. Es fiel Regine Werwoll so manches Mal schwer, die frischgebackenen Eltern nach dem Aufenthalt im Kreißsaal zu trennen. Auf Station durften die Väter nicht mit.
Am Montag hatte Regine Werwoll ihren letzten Arbeitstag. Ein ruhiger Tag - ohne ein Baby. Dafür blieb Zeit auszuräumen, sich von den Kolleginnen zu verabschieden - mit einem Gläschen Sekt auf Abstand. „Das ist das Traurige daran: Wir haben in den Jahrzehnten immer gut zusammengearbeitet, aber auch so manches Mal gut zusammen gefeiert. Das ist jetzt nicht möglich. Ich hätte gern mit meinen Hebammen und den Ärzten eine große Fete veranstaltet.“
Auf das, was sie nun erwartet, freut sie Regine Werwoll sehr. Alles nachholen, wozu nach anstrengenden Arbeitstagen die Kraft fehlte: Wandern, Radfahren, viel lesen, und Reisen, wenn es wieder geht. Auf Babys muss sie nicht verzichten. Vor drei Monaten ist Regine Werwoll zum ersten Mal Oma geworden.