Die Küche könnte andernorts als Zwei-Raum-Wohnung durchgehen. Die Deckengewölbe des 500 Jahre alten Renaissance-Hauses krönen ein Ensemble mit Bogenwänden, einer Couch, Schreibtisch und dem klassischen Bauernschrank mit Büchern oben drauf.
Im Geschirrschrank steht genug Porzellan, um eine zehnköpfige Abendgesellschaft zu verköstigen, die um den alten Holztisch in der Mitte passen würde. Das einst von Tuchmachern erbaute Haus ist eine Perle in der Görlitzer Altstadt und gerade einen Steinwurf von der Neiße entfernt.
Klaus Wilmes hat sich vorbereitet. Der 81-Jährige mit dem sorgsam gescheitelten weißen Haar knetet versonnen ein kleines Notizbüchlein mit den Fingern. Dann legt er es auf den Tisch. Die munteren graublauen Augen mustern das Papier vor sich. Dass er noch einmal tief in seinen Erinnerungen kramen muss, die gut fünf Jahrzehnte zurückliegen, damit hatte der pensionierte Lehrer nicht gerechnet.
In jungen Jahren hat Wilmes am Petrinum-Gymnasium im nordrhein-westfälischen Brilon unter anderem Geschichte unterrichtet. Unter seinen damaligen Schülern war auch ein Junge, über den später ganz Deutschland reden sollte: Friedrich Merz, der Mann, der zweimal Anlauf auf den CDU-Vorsitz nahm und als Hoffnungsträger der Konservativen in der Union gilt, vor allem auch im sächsischen Landesverband.
Durch Fernsehreportage auf Görlitz gekommen
1970/71 sei das gewesen, erinnert sich Wilmes an den Schüler Friedrich. „Damals konnte ich ja nicht ahnen, dass er mal berühmt wird“, sagt Klaus Wilmes. Und er fügt schmunzelnd hinzu: „Er ist als Schüler nicht durch besondere Leistungen aufgefallen, eher im Gegenteil.“ Der Lehrer für Sport, Geschichte und Politik/Sozialkunde, damals 31 Jahre alt, war 1970 gerade von Studium und Referendariat in Westberlin zurückgekehrt an seine Schule im sauerländischen Brilon, dem Geburtstort von Friedrich Merz. „Manche Kollegen kannten mich dort noch als Schüler.“ Wilmes hatte die Studentenunruhen der späten Sechzigerjahre erlebt. Allein mit einem Studium in Berlin galt man im konservativen Sauerland damals quasi schon als Sozialist, erzählt er und lacht.
Wilmes war als Fünfjähriger mit seiner Familie im rund 80 Kilometer entfernten Attendorn ausgebombt worden. Der Vater war schon 1943 im Russlandfeldzug gefallen. Die Mutter zog mit dem Jungen und seinen zwei Schwestern nach Brilon. Klaus Wilmes hat seit dem Angriff mit einer Knieverletzung zu kämpfen, was ihn nicht daran hinderte, sogar Sportschwimmer zu werden. Noch heute gibt er in seiner Wahlheimat Görlitz Jungen und Mädchen Schwimmunterricht, zuletzt vor den Herbstferien.
Der Pensionär lebt seit 16 Jahren mit seiner Frau Monika in Görlitz. Die passionierte Kunstmalerin war es, die in einer Fernsehreportage auf die großteils sanierte Stadt aufmerksam geworden war. Ein Besuch reichte, dann war klar: Nach einem Leben mit vielen Umzügen sollte Görlitz der ruhige Altersitz, werden. Von Brilon war er 1984 wieder nach Berlin gegangen, wo er bis zur Rente lehrte.

Mit dem späteren CDU-Politiker bekam es Wilmes 1970 in der neunten Klasse zu tun, die damals noch Obertertia genannt wurde. Schwere disziplinarische Störungen sind überliefert, die Merz selbst einmal in einem Interview so nannte. Ob Merz, wie er erzählte wirklich mit seinen Freunden im Unterricht in der letzten Reihe Doppelkopf gespielt hat, vermag Klaus Wilmes nicht mehr mit Sicherheit zu sagen. Es ist dann doch zu lange her. „Hätte ich seine Entwicklung vorausahnen können, hätte ich mir bestimmt mehr zu ihm aufgeschrieben, aber daran war damals nicht zu denken.“ Warum auch. Wilmes grinst verschmitzt.
Doch an einen Streich in der Klasse von Friedrich Merz erinnert sich Klaus Wilmes noch deutlich. „Die hatten die Tür aus den Angeln gehoben und nur angelehnt, eine Lehrerin ist dann buchstäblich mit der Tür ins Klassenzimmer gefallen.“
Für den widerspenstigen Friedrich jedenfalls habe er damals eine gewisse Sympathie empfunden, sagt Klaus Wilmes. Schließlich sei er selbst auch mal ein fauler Schüler gewesen, gibt er zu. „Für mich war die Schule auch nebensächlich, ich hatte nicht einmal alle Schulbücher, die man so brauchte.“ Vielleicht auch deshalb hat er Friedrich Merz nach einem Jahr Nichtleistung im Geschichtsunterricht eine „Gnaden-Vier“ gegeben. „Mit einer Fünf hätte er ein Problem mit der Versetzung bekommen, da war ich immer menschlich.“
Merz: Es gab disziplinarische Dissonanzen
Der Junge hatte ohnehin schon genug Ärger. Denn der Vater von Friedrich Merz, ein lokaler Amtsrichter, unterrichtete ebenfalls am Petrinum, aber nur das Fach Rechtskunde – und wurde ständig auf die Verfehlungen seines Sohnes angesprochen. Und noch etwas verbindet den Lehrer mit dem Schüler. Beide mussten die zehnte Klasse, die Untersekunda, wegen schlechter Leistungen wiederholen.
Doch welche Erinnerungen hat Friedrich Merz an den Lehrer und an die Schulzeit? Ein Anruf beim Team Merz in Berlin, noch einer im sauerländischen Arnsberg – kurz darauf ist Friedrich Merz selbst am Telefon. „Das ist ja 50 Jahre her, aber der Name sagt mir noch was und auf einem alten Klassenfoto würde ich Herrn Wilmes wiedererkennen“, sagt Merz. „Es gab damals erhebliche disziplinarische Dissonanzen zwischen mir und der Schule.“
Nachdem er nicht einmal mehr mit einer Nachprüfung die zehnte Klasse habe retten könne, sei ihm 1971 nahegelegt worden, die Schule zu wechseln. „Da hat mir die Gnaden-Vier von Herrn Wilmes auch nix mehr genützt.“ Im 20 Kilometer entfernten Gymnasium in Rüthen schaffte er die Prüfung schließlich. Merz weiß noch, dass der alte Lehrer eine Sportgröße in der Stadt war. „Mein Bruder war ein besserer Schwimmer als ich und war bei Herrn Wilmes im Schwimmunterricht.“
Der Bruder, obwohl er auf der Hauptschule war, sei aber auch sonst deutlich ehrgeiziger gewesen, erinnert sich Klaus Wilmes. Den Weg seines widerspenstigen Schützlings, den er am Ende nur ein Jahr unterrichten konnte, hat Wilmes in Zeitungsberichten und im Fernsehen verfolgt. 1980 der Eintritt in die Junge Union, Ende der Achtziger Abgeordneter im Europaparlament, dann der Weg in den Bundestag. Eine stete, steile Karriere.
Kurzes Treffen, doch Merz erinnert sich
Als Merz im Jahr 2000 Fraktionsvorsitzender wurde, schrieb Wilmes, der damals an einem Gymnasium in Berlin unterrichtete, seinen Ex-Schüler an. Ob er nicht einmal mit seinem Leistungskurs Politik in den Bundestag kommen könnte. Er konnte. Merz habe einen Brief geschrieben, seinen alten Lehrer samt Schülern eingeladen und eine Betreuung organisiert. Die Gruppe erlebte das Plenum des Bundestags, es gab noch eine Führung dazu, aber Merz selbst habe sich nicht um die Gruppe kümmern können, sagt Klaus Wilmes.
Vielleicht auch wegen des nach der CDU-Spendenaffäre aufziehenden Machtkampfs in Fraktion und CDU-Spitze mit Merz‘ damaliger Konkurrentin, einer gewissen Angela Merkel, hatte Merz wohl keine Zeit. Ein kleines bisschen enttäuscht war Klaus Wilmes schon.
Es sollte noch einmal gut 18 Jahre dauern, bis sich die nächste Gelegenheit ergab, den Ex- Schüler aus der Nähe zu sehen – ausgerechnet in der neuen Wahlheimat Görlitz. In einem erbitterten Wahlkampf mit der AfD kam Merz als „Stargast“ zu einem gemeinsamen Auftritt mit Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer ins Görlitzer Theater.

Schon davor versammelten sich die Zuhörer, es gab Bier aus Pappbechern, erinnert sich Klaus Wilmes. Eigentlich habe er nur noch schnell vor Beginn seinen Becher wegwerfen wollen und dafür einen Mülleimer gesucht, als ihm plötzlich Merz entgegen gekommen sei. „Sie müssten mich noch aus Brilon kennen“, habe er zu Merz gesagt. Der habe gestutzt, sich den Namen sagen lassen und höflich erwidert, er könne sich dunkel erinnern. Merz war in Eile.
Als es nach dem Auftritt noch eine gemütliche Runde mit Bier vor dem Theater gab, musste Wilmes schnell nach Hause, weil seine Frau zu diesem Zeitpunkt krank war. „Ich wollte ihm eigentlich noch sagen: Herr Merz, wenn ich damals gewusst hätte, was sie alles drauf haben, hätten Sie eine bessere Note von mir bekommen.“
Am Telefon erinnert sich Friedrich Merz, dass Wilmes ihn in Görlitz angesprochen hat. „Beim Bier draußen war er leider nicht mehr da“, sagt der 65-Jährige und lässt noch einen herzlichen Gruß ausrichten. Wer weiß, vielleicht begegnen sie sich doch noch einmal ganz persönlich, der alte Lehrer und sein inzwischen gereifter Schüler.