Görlitzer Verleger setzt auf Europas Osten

Mitten in der Corona-Krise, als kaum noch Reisen möglich waren und Hoffnungen auf ein rasches Ende der Pandemie immer wieder gedämpft wurden, verlor Alfred Theisen fast den Mut. Beinahe hätte er das Reisegeschäft aufgegeben, mit dem er vor 2020 viele Jahre lang Gruppenreisen nach Schlesien, Polen und Ostmitteleuropa veranstaltet hatte.
"Die Schwierigkeit war, dass wir nicht planen konnten und der Aufwand für das Organisieren, Bewerben und Absagen einer Reise genauso hoch und kostenintensiv ist wie für eine gelungene Fahrt, nur dass es nichts einbringt", sagt der Inhaber von Senfkornreisen und der Schlesischen Schatztruhe auf der Görlitzer Brüderstraße, wo er auch seinen Senfkornverlag betreibt.
"Wir geben nicht auf"
Außerdem sei auch die Reisebranche von Personalsorgen betroffen – genau wie die Hotellerie und Gastronomie, aus der sich während der Pandemie viele Mitarbeiter verabschiedet und andere Jobs gefunden haben. "Doch wir geben nicht auf, sondern sind guten Mutes", sagt Alfred Theisen. "Für 2022 haben wir wieder ein, wenn auch kleineres Reiseprogramm vorbereitet, freuen uns über die steigende Nachfrage und hoffen auf einen guten Sommer."

Zwischen Mai und Oktober soll es zu Schlössern Pommerns, Brandenburgs und Schlesiens gehen, ins Riesengebirge und ins Glatzer Bergland, nach Ostpolen, ins "Kuhländchen", nach Lemberg und Czernowitz in Galizien. Eine Bildungsreise mit Begegnungen führt nach Oberschlesien, eine Flugreise ist nach Georgien und Armenien geplant. Und für Juni bereitet Alfred Theisen eine Fahrt auf den Spuren der Familie von Hochberg und Pless vor.
Erinnerungen einer Britin an vergessenes Schlesien
Diese Reise passt zu einem besonderen Buch, das in den nächsten Tagen erscheinen wird. Dessen Autorin und Hauptfigur: "Daisy" von Pless – eine Britin, die in Schlesien als Fürstin der Herzen galt, als ein Fixstern der Gesellschaft Europas vor dem Ersten Weltkrieg, und die befreundet war mit Männern wie Kaiser Wilhelm II. oder dem britischen König Eduard VII. sowie mit Frauen wie der Königin von Rumänien.
Alfred Theisen gibt den Reprint ihrer Lebenserinnerungen "Tanz auf dem Vulkan" aus dem Jahr 1930 zwar nicht selbst heraus, doch, weil sein Verlag und Buchhandel auf Schlesien und Osteuropa spezialisiert ist, wandte sich der Westarp-Verlag aus Sachsen-Anhalt, der das Buch neu auflegt, an ihn. "Wir wollen bei der Vermarktung dieser mutigen Investition unterstützen", sagt Theisen.
Er selbst wisse am besten, wie sich das Geschäft mit Literatur aus und über Schlesien verändert hat. "Als wir vor 23 Jahren die Schlesische Schatztruhe eröffneten, lebte unser Geschäft zu zwei Dritteln vom Buchverkauf." Doch mit dem Schwinden der Erlebnisgeneration, der aus Schlesien Vertriebenen und mit der Region persönlich verbundenen, sei die klassische Schlesienliteratur kaum noch gefragt. Deshalb setze er schon seit einiger Zeit auf touristische Literatur, die nach Schlesien einlädt.
Die reichste Familie Schlesiens
"Bei Büchern über Schlesien und die Geschichte dieser Region muss man heute gut auswählen", sagt Alfred Theisen. "Dabei gehören die Erinnerungen von Daisy von Pless zu den wirklich wertvollen Informationsquellen über Schlesien und Europa vor dem Ersten Weltkrieg. Die Welt, die sie beschreibt, kann man sich heute kaum noch vorstellen."
Die Adelsfamilie von Hochberg und Pless gehörte neben den von Schaffgotschs zu den vermögendsten Familien in ganz Schlesien, hatte Ländereien vom Waldenburger Land bis nach Oberschlesien, besaß große Kohlevorkommen, war in der Montanindustrie tätig und baute mit Schloss Fürstenstein das größte Anwesen in ganz Schlesien.
Daisy von Pless (1873–1943), die mit vollem Namen Mary Theresa Olivia Cornwallis-West hieß, war dort als Britin um 1900 etwas Außergewöhnliches. Sie war die Tochter eines britischen Obersts und galt in der Londoner Gesellschaft als eine der schönsten Frauen ihrer Zeit. Durch ihre Heirat mit dem späteren Fürsten Hans Heinrich XV. von Pless, dem sie drei Söhne gebar, wurde sie Fürstin von Pless, Gräfin von Hochberg und Freifrau zu Fürstenstein.
Daisy von Pless bis heute verehrt
Nicht nur ihre Gesellschaften auf den prächtigen Schlössern Fürstenstein und Pless waren berühmt, Daisy engagierte sich auch im Sozial- und Gesundheitswesen Schlesiens. Sie initiierte Reformen zugunsten arbeitender Frauen und Mütter, behinderter Kinder und der Spitzenherstellung, in der viele Frauen im Riesengebirge arbeiteten. "Im Waldenburger Bergland wird Daisy von Pless bis heute verehrt", sagt Alfred Theisen. "Ihre Wohltaten für die Region rechnet ihr auch die polnische Bevölkerung hoch an." Neben der Heiligen Hedwig, Edith Stein, der Gräfin von Reden, Dorothea von Sagan oder der Physiknobelpreisträgerin Maria Goeppert-Mayer gehöre sie zu den großen Frauen Schlesiens, die es noch mehr zu würdigen gelte.
Zumal ihr Leben keinen glücklichen Verlauf nahm: Mit Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 verließ Daisy Schlesien im Alter von 41 Jahren und arbeitete als Rotkreuzschwester auf Lazarettzügen in Frankreich. Als Britin war sie nach dem Krieg in Deutschland nicht gern gesehen, erst 1921 kehrte sie nach Schlesien zurück. Schloss Pless in Oberschlesien gehörte inzwischen zu Polen, Fürst von Pless war polnischer Staatsbürger geworden, ließ sich scheiden und heiratete eine jüngere Frau.
Was die Görlitzer Stadthalle mit Churchill verbindet
Daisy von Pless kehrte nach einer Zeit in Frankreich und München aus Kostengründen nach Waldenburg zurück und schrieb dort ihre Memoiren. Durch die Inflation war von ihrer Scheidungsabfindung nicht viel übrig geblieben. Unter den Nationalsozialisten positionierte sie sich eindeutig. Demonstrativ besuchte sie das 1940 bei Jauer eröffnete KZ Groß-Rosen und brachte den Häftlingen Lebensmittel. 1943 wurde Schloss Fürstenstein von der NSDAP beschlagnahmt und sollte zum Führerhauptquartier ausgebaut werden. Im selben Jahr starb Daisy von Pless arm und vereinsamt in Waldenburg.
"Die Familie Hochberg und Pless hat auch bis nach Görlitz gewirkt", sagt Alfred Theisen. Mehr noch – durch Daisy von Pless sind die Görlitzer Stadthalle und Winston Churchill miteinander verbunden. Ihr Ehemann war der Neffe des Komponisten Bolko von Hochberg, der 1876 die Schlesischen Musikfeste ins Leben rief, den Anlass für den Bau der 1910 eröffneten Stadthalle. Daisy selbst war die Stieftante des späteren britischen Premierministers, weil ihr Bruder die verwitwete Mutter Winston Churchills heiratete.