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Kreis Görlitz profitiert extrem von Geld-Umverteilung

Der Landkreis Görlitz hat beim verfügbaren Einkommen aufgeholt. Das liegt aber nicht an höheren Gehältern. Der Staat spielt eine wichtige Rolle dabei.

Von Frank-Uwe Michel
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Birkenstock hat in Görlitz sehr viele, aber oftmals nicht besonders gut bezahlte Arbeitsplätze geschaffen. Das sorgt mit dafür, dass das Pro-Kopf-Einkommen im Kreis relativ niedrig ist.
Birkenstock hat in Görlitz sehr viele, aber oftmals nicht besonders gut bezahlte Arbeitsplätze geschaffen. Das sorgt mit dafür, dass das Pro-Kopf-Einkommen im Kreis relativ niedrig ist. © Pawel Sosnowski/80studio.net

Jahrelang grüßte der Landkreis Görlitz von ganz hinten, wenn es um das Einkommen der Bevölkerung ging. Eine neue Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institutes (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung legt nun nahe, dass der Kreis diese traurige Spitzenposition verloren hat.

Dazu haben die Autoren nicht nur das Primäreinkommen betrachtet - also die Summe der Einkünfte aus Vermögen und Erwerbstätigkeit mit Stand von 2019. Eingerechnet wurden auch die Leistungen des staatlichen Steuer- und Transfersystems. Um das so wichtige verfügbare Pro-Kopf-Einkommen zu ermitteln, zogen die Experten deshalb Sozialbeiträge, Einkommens- und Vermögenssteuern sowie sonstige direkte Abgaben ab, schlugen andererseits aber gezahlte Sozialleistungen und Leistungen von Haftpflicht- und Fahrzeugversicherungen drauf.

Die wichtigste Botschaft dieser Berechnung: Die Einwohner im Landkreis Görlitz profitieren extrem von dem in Deutschland üblichen Steuer- und Transfersystem. Hinter dem Landkreis Mansfeld-Südharz in Sachsen-Anhalt (plus 1.715 Euro pro Kopf) liegt Görlitz auf Platz zwei der Gewinner aus dem Umverteilungsprozess. 1.597 Euro haben die Menschen hier jährlich mehr zur Verfügung, als sie durch ihre Arbeit eigentlich verdient haben. Auf Platz drei folgt der Thüringer Landkreis Altenburger Land (plus 1.295 Euro pro Kopf). Insgesamt gehen jedoch nur 24 der etwa 400 Landkreise mit einem positiven Saldo aus dem Steuer-Transfer-System hervor. Alle liegen in den neuen Bundesländern.

Am anderen Ende der "Fahnenstange" stehen finanzstarke Regionen aus dem Altbundesgebiet. Laut der WSI-Studie leistet München mit -15.314 Euro pro Kopf den größten Beitrag für die staatliche Umverteilung. Hinter der bayerischen Landeshauptstadt liegen der Hochtaunuskreis mit -14.338 Euro und der Landkreis Starnberg mit -14.274 auf den Rängen zwei und drei.

Kreis Görlitz mit 20.200 Euro Pro-Kopf-Einkommen

Kaufland hat seine Zentrale in Heilbronn. Dort ist das verfügbare Pro-Kopf-Einkommen so hoch wie nirgendwo sonst in Deutschland.
Kaufland hat seine Zentrale in Heilbronn. Dort ist das verfügbare Pro-Kopf-Einkommen so hoch wie nirgendwo sonst in Deutschland. © Pawel Sosnowski/pawelsosnowski.c

Dass diese Zahlen so zustande kommen, hat natürlich Gründe. Die liegen in erster Linie an ordentlich bezahlten Arbeitsplätzen, aber auch an Häufungen gut betuchter Bürger, die den Einkommensdurchschnitt in ihren Landkreisen nach oben schnellen lassen. Mit einem verfügbaren Pro-Kopf-Einkommen von 42.275 Euro bzw. 38.509 Euro befinden sich Heilbronn und der Kreis Starnberg auf den Spitzenplätzen. Die Verfasser der Studie führen das in Heilbronn auf die Zentrale der Schwarz-Handelsgruppe mit den Firmen Lidl und Kaufland zurück. Der Landkreis Starnberg ist für die Dichte millionenschwerer Fußballstars und schwerreicher Wirtschaftsbosse bekannt. Dass solche Regionen in das Umverteilungssystem mehr einzahlen, liegt auf der Hand.

Eine völlig andere Situation deshalb am unteren Ende der Liste. Dort tummeln sich nicht nur ostdeutsche Landkreise, sondern auch solche aus wirtschaftlich gebeutelten Regionen des Westens. Ganz hinten liegt Gelsenkirchen mit nur 17.015 Euro, gefolgt von Duisburg (17.741 Euro), Halle/Saale (18.527 Euro), Bremerhaven (18.590 Euro) und Herne (18.907 Euro). Einwohner im Landkreis Görlitz können auf ein verfügbares Pro-Kopf-Einkommen von 20.200 Euro zurückgreifen. Damit liegt der Kreis deutschlandweit im hinteren Mittelfeld.

In Sachsen gehört das Gebiet zwischen Weißwasser und Zittau mit diesem Wert nach wie vor zu den ärmeren Regionen. Weniger Pro-Kopf-Einkommen als der Landkreis Görlitz haben laut den Autoren der WSI-Studie mit 19.574 Euro nur noch die Menschen in der Stadt Leipzig zur Verfügung. Sie erzielen durch Erwerbstätigkeit und Vermögen mit 22.763 Euro Primäreinkommen zwar deutlich mehr, müssen aber mit 3.189 Euro das staatliche Transfersystem bedienen.

Paul und Rita Schätzel aus dem Görlitzer Frauenburgkarree sind Rentner. Damit gehören sie im Kreis Görlitz zu einer sehr großen Bevölkerungsgruppe.
Paul und Rita Schätzel aus dem Görlitzer Frauenburgkarree sind Rentner. Damit gehören sie im Kreis Görlitz zu einer sehr großen Bevölkerungsgruppe. ©  Archivfoto: Nikolai Schmidt

Bei den Görlitzern, Löbauern, Nieskyern ist das genau umgekehrt: Sie erzielen mit ihren vergleichsweise schlecht bezahlten Jobs nur 18.603 Euro im Jahr (der niedrigste Wert in Sachsen), bekommen diese Summe durch staatliche Umverteilungen aber auf 20.200 Euro aufgestockt. Das macht ein Plus von 1.597 Euro aus. Mit diesem Betrag liegt der Landkreis im Freistaat weit vorn. Der Erzgebirgskreis weist mit +728 Euro ebenfalls einen positiven Saldo aus, gefolgt vom Vogtlandkreis (+644 Euro) und dem Landkreis Mittelsachsen (+67 Euro). In allen anderen sächsischen Kreisen wird den Einwohnern durch das staatliche Umverteilungssystem mehr genommen als gegeben. Wie beschrieben büßen die Leipziger mit -3.189 Euro am meisten ein, gefolgt von den Dresdnern mit -3.176 Euro. Im Nachbarkreis Bautzen herrscht fast ein Patt: Von ihrem Primäreinkommen geben die Bürger nur -35 Euro ab und kommen damit auf ein verfügbares Pro-Kopf-Einkommen von 21.558 Euro.

Beleg für funktionierenden Wohlfahrtsstaat

Nach Angaben der Studien-Autoren lässt sich die hohe Umverteilungssumme im Landkreis Görlitz zum großen Teil mit der alternden Bevölkerung begründen. Denn der größte Teil der Transferleistungen dürfte auf staatliche Rentenzahlungen zurückzuführen sein. Insgesamt trägt das Steuer-Transfer-System zur Angleichung der Einkommen in allen Regionen Deutschlands bei. Liegen die Primäreinkommen im Westen durchschnittlich 33 Prozent über denen im Osten, sind es mit Umverteilungseffekten nur noch 16 Prozent mehr.

Für den Soziologie-Professor Raj Kollmorgen von der Hochschule Zittau/Görlitz sind die Ergebnisse der Studie "ein Beleg dafür, dass das System unseres Wohlfahrtsstaates funktioniert." Dies zu betonen sei vor allem wichtig im Hinblick auf "populistische Verengungen". Ungleich entwickelte Primäreinkommen würden durch den Umverteilungsmechanismus abgefedert. "Das ist für die Menschen hier lebensnotwendig. Denn wir wollen ja keine US-amerikanischen Verhältnisse, wo der Unterschied von Arm und Reich viel gravierender ist." Gerade weil es das Transfersystem des Staates gebe, sei der Landkreis Görlitz mit seiner Bevölkerungsstruktur im Vorteil.

Raj Kollmorgen, Professor für Soziologie und Management sozialen Wandels an der Hochschule Zittau/Görlitz, sagt, dass das System unseres Wohlfahrtsstaates funktioniert.
Raj Kollmorgen, Professor für Soziologie und Management sozialen Wandels an der Hochschule Zittau/Görlitz, sagt, dass das System unseres Wohlfahrtsstaates funktioniert. © PR-Foto

Dass sich die Situation perspektivisch schnell ändern und das Verhältnis von Primär- und verfügbarem Pro-Kopf-Einkommen verschieben wird, glaubt der Fachmann von der Hochschule nicht. "Wir müssen uns bewusst machen, dass die Kaufkraft hier nicht explodieren wird, auch wenn sich Forschungsinstitute ansiedeln und das eine oder andere Unternehmen investiert." Die grundsätzliche Situation werde in den nächsten 30 Jahren so bleiben, was aber nicht schlimm sei. Denn: "Wir haben ein funktionierendes System, das die Unterschiede vermindert."

Nach Berechnungen der WSI-Studie sorgen auch die Preisunterschiede in den einzelnen Regionen für eine weitere Angleichung. Verringern die Transferleistungen die Einkommensdifferenz von West zu Ost von 36 auf 16 Prozent, so sinkt dieser Wert nach Einrechnen der verschiedenen Preisniveaus weiter auf 12 Prozent.