Als das Ziel des Zehnkampfes im "Stade de France" in Paris erreicht und die Ehrenrunde fast absolviert war, da drehte sich Leo Neugebauer noch einmal um, sah seine Oma aus der Nähe von Görlitz mitten in den Zuschauerrängen, winkte sie heran, drückte und umarmte sie. Kein Wort habe sie herausgebracht, erzählt Christine Neugebauer Tage später in ihrem Haus der SZ, gerade gut zurückgekehrt von einer der aufregendsten Reisen ihres Lebens.
Sprachlos nach dem Zieleinlauf
Auch ihrem 24-jährigen Enkel Leo, der gerade Silber beim olympischen Zehnkampf gewonnen hatte und wie immer nach einem erfolgreichen Wettkampf lachte, tanzte und andere mit seiner guten Stimmung ansteckte, war dieser Moment wichtig. Den Journalisten beschrieb er, wer da alles mit ihm feierte: "Freunde, Familie, frühere Trainingskollegen." Es sei schon verrückt, eine Umarmung von all den Leuten zu bekommen, die er am liebsten hat. Und: "Oma war auch dabei."
Das ist nun ein paar Tage her, die glückselige Nacht von Paris, nach 48 Stunden Hoch- und Anspannung. Mittendrin im großen Kessel saßen rund 40 Fans von Leo Neugebauer, die sich diesen Wettkampf nicht entgehen lassen wollten. Es waren Freunde aus seiner Stuttgarter Zeit, die ihn schon immer über das soziale Netzwerk Instagram anfeuern und begleiten, sein früherer Trainer und auch der Leichtathletik-Abteilungsleiter vom VfB Stuttgart, Dieter Göggel. Neugebauer war im vergangenen Jahr zum VfB Stuttgart gewechselt, auch wenn er weiter in Austin (Texas) lebt und trainiert. "Wir sind so stolz auf das, was Leo heute abgeliefert hat. Eine Silbermedaille bei den olympischen Spielen hat noch kein VfB-Leichtathlet errungen."
Auch für Görlitz ist das noch nicht vorgekommen. Es gab Schwimmer, die bei Olympischen Spielen erfolgreich waren. Aber so weit wie Neugebauer hat es ein gebürtiger Görlitzer in der Leichtathletik bei Olympia noch nicht gebracht. Selbst wenn Leo Neugebauer - ähnlich wie Fußballspieler Michael Ballack - nur wenige Wochen hier lebte, ehe seine Familie wegzog und mittlerweile von der FAZ als Weltbürger bezeichnet wird: Im sächsischen Görlitz geboren, Wurzeln väterlicherseits in Kamerun, aufgewachsen bei Stuttgart, gereift im texanischen Austin. Der Görlitzer Oberbürgermeister Octavian Ursu ließ es sich jedenfalls nicht nehmen über Instagram dem Vize-Olympiasieger zu gratulieren: "Welch eine Leistung".
Paris war eine der wenigen Chancen, den Enkel live zu verfolgen
Die kann Christine Neugebauer auch Tage nach dem Ereignis kaum in Worte fassen. Beim abschließenden 1.500-Meter-Lauf konnte die Oma des Zehnkämpfers kaum hinschauen. "Hoffentlich hat er noch die Kraft, das durchzustehen", habe sie bei sich gedacht und gar nicht daran, dass es um Gold, Silber oder Bronze ging. Sie war nur glücklich, als er es geschafft hatte, andere aus der Fangruppe hätten gleich gewusst: Es war Silber. Die erste Medaille bei der ersten Olympiateilnahme.
Da lagen bereits aufregende Tage hinter der Frau aus der Oberlausitz, die noch vor wenigen Wochen ihren 70. Geburtstag gefeiert hatte. Die Eröffnungsfeier schaute sie noch vor dem heimischen Fernseher zur Einstimmung an, anschließend packte sie übers Wochenende ihre Sachen und am Montag startete sie nach Stuttgart. Sie nahm den Zug über Dresden nach Stuttgart. Von der Landeshauptstadt Baden-Württembergs ging es dann Mittwochfrüh in drei Stunden nach Paris. Nicht mit dem Flugzeug, sondern mit dem Schnellzug TGV und Tempo 300. Schon das war ein Erlebnis für die Gruppe.
Der Familienplan für Paris war schon im vergangenen Jahr gereift. Eigentlich sollte Christine Neugebauer schon mit zur Weltmeisterschaft nach Budapest fahren, auch da waren Eltern und Freunde ihm nachgereist und hatten ihn an den zwei Tagen begleitet. Doch als sich das kurzfristig zerschlug, stand für ihre Tochter und Leos Mutter Diana fest: Zu Olympia fahren wir alle nach Paris. Denn es ist eine der wenigen Chancen, Leo Neugebauer bei einem großen Wettkampf hautnah zu erleben. Die nächsten Olympischen Sommerspiele finden 2028 im kalifornischen Los Angeles und 2032 im australischen Brisbane statt, die nächsten Leichtathletik-Weltmeisterschaften kommendes Jahr in Tokio.
Mission Paris startete schon im Winter
Bereits im November, Dezember kümmerten sie sich um die Tickets. Das gestaltete sich schon als schweres Unterfangen, denn pro Person konnten maximal sechs Tickets bestellt werden. Sie gelten nur für eine Vormittags- oder für eine Abendsession, nachmittags mussten alle das Stadion verlassen. Also haben fünf verschiedene Leute die Karten bestellt, um am Ende für alle vier Teilveranstaltungen genügend Plätze zu haben. Billig war das Ganze auch nicht. Pro Person kosteten die Stadiontickets für die zwei Tage rund 650 Euro. Auch die Unterkünfte reservierten die Neugebauers frühzeitig, schließlich gab es auch hier große Preissteigerungen, je näher das Ereignis heranrückte.
Leo Neugebauer ließ schließlich in Amerika von einem Freund ein neues T-Shirt entwerfen. Darauf das legendäre Foto von seinem Stabhochsprung in Budapest, als er nach geglücktem Versuch beim Fallen mit dem ausgestreckten Arm ins Publikum zeigte. Und es waren seine vier letzten Bestleistungen auf dem Shirt. 100 Stück ließ Neugebauer in den USA bedrucken, schickte davon 70 nach Deutschland sowohl für die Reisegruppe als auch für das Public Viewing in Leinfelden-Echterdingen.
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Als die Neugebauers schließlich in Paris waren, stand erst einmal bei großer Hitze ein Stadtbummel an. Christine Neugebauer, die nie zuvor in der französischen Hauptstadt war, blieb der Eiffelturm lebhaft im Gedächtnis. "Man kennt ja dieses Bauwerk, aber wenn man davorsteht, ist es dann doch etwas ganz anderes und sehr beeindruckend", erzählt sie. Auch im Künstlerviertel Montmartre schauten sie sich um, im Louvre, in den Tuilerien-Gärten sahen sie tagsüber die olympische Flamme, die nachts an einem Heißluftballon aufsteigt und mittlerweile zu einer solchen Sehenswürdigkeit in Paris geworden ist, dass es Überlegungen gibt, sie dauerhaft brennen zu lassen - zumal es kein richtiges Feuer ist: Hochdrucknebeldüsen erzeugen Wasserdampf, der von LED-Scheinwerfern beleuchtet wird.
Doch schließlich waren alle gespannt auf das große Stadion im Vorort Saint Denis, wo die Leichtathletik-Wettkämpfe stattfanden. Es sei eine unglaubliche Stimmung und Atmosphäre gewesen, berichtet Christine Neugebauer, die zum ersten Mal einen solchen Wettkampf im Stadion erlebte. Die Begeisterungswogen im Stadion liefen im Rund herum. Und unheimlich laut ging es zu.
Tickets für Siegerehrung: Da half der Verband
Neugebauers Fangruppe, selbst wenn sie wegen des Ticket-Wirrwarrs etwas über das Stadion verstreut den Wettkampf verfolgte, informierte sich immer gegenseitig, wo gerade die Zehnkämpfer im Stadion antraten. "So sind wir mit den Disziplinen mitgewandert", sagt Leos Mutter Diana Neugebauer. Für sie war es dann das Größte auch noch die Siegerehrung am Sonntagabend im Stadion zu erleben. Leo Neugebauer hatte in der ARD davon gesprochen, dass es gar nicht so leicht gewesen sei, seine Eltern und die Schwester nochmal ins Stadion zu bekommen. Am Ende half der Deutsche Leichtathletikverband.
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Für Christine Neugebauer und die Dresdner Familienmitglieder ging es am Sonntag wieder mit dem Schnellzug nach Stuttgart und mit dem Auto weiter nach Dresden, ehe die 70-Jährige dann allein die letzte Wegstrecke nach Hause mit dem Zug zurücklegte, wo ihr Mann und Leos Opa den Wettkampf verfolgt hatte. Gesundheitlich angeschlagen konnte er die große Reise nicht mehr antreten.
Nun ist der Alltag bei den Neugebauers bei Görlitz wieder eingekehrt. Wenn Christine Neugebauer in ihren Garten schaut, dann sieht sie all die Früchte, die geerntet werden müssten. Viel Arbeit. Dabei begleiten sie jetzt die Erlebnisse der vergangenen Tage: Olympia in Paris, mit ihrem ältesten Enkel Leo in einer Hauptrolle beim Zehnkampf, und zusammen mit ihren Kindern und Enkeln als Besucher und Unterstützer, darunter auch ihr Jüngster, der fünfjährige August aus Dresden. "Es war gut, dass ich gefahren bin", sagt sie zum Abschied. "All das kann mir niemand mehr nehmen."