Wieler verabschiedet sich geheimnisvoll vom Stadtrat

Es war offenkundig ein längerer Abschied für Michael Wieler als bislang öffentlich bekannt. Schon vor der letzten OB-Wahl in Görlitz habe er den damaligen Amtsinhaber Siegfried Deinege und später auch den CDU-Kandidaten Octavian Ursu darüber informiert, dass er für keine weitere Amtszeit zur Verfügung stehe. Das war vor mehr als drei Jahren.
Nun biegt er auf die Zielgeraden seiner Amtszeit. Noch ein paar Tage Urlaub, ein paar wenige auch im Amt, bevor ab 22. August Nachfolger Benedikt Hummel seine Position einnimmt. So hatte es der Görlitzer Stadtrat im Juni beschlossen.
Einen großen Abschied aus dem Amt des Bürgermeisters wollte Michael Wieler vermeiden. Ganz ohne Würdigung aber wollte Oberbürgermeister Octavian Ursu ihn nun wiederum auch nicht ziehen lassen, und so kam es zu einem fast schon politischen Edel-Kompromiss in der vergangenen Stadtratssitzung.

OB Ursu dankt Wieler für seine Visionen
Kurz vor Ende der öffentlichen Sitzung, unter dem unscheinbaren Tagesordnungspunkt "Verschiedenes", die Zeiger der Uhr rückten auf 20 Uhr vor, trat Octavian Ursu ans Mikrofon und bedankte sich im Namen des Stadtrates und der gesamten Stadt bei Wieler für dessen 14-jährige Amtszeit, für seinen Humor, für seine Visionen, für seine Liebe zur Stadt und die großen Fußstapfen, die er seinem Nachfolger hinterlasse. Und übergab ihm ein Buch mit Fotos aus den zurückliegenden Jahren sowie eine Grünpflanze, die nun Wieler auf dem heimischen Grundstück verwenden kann.
Der so Geehrte wollte auch gar nicht eine große Rede halten - und doch zeigte er ungewollt mit seinen Worten, wofür er in Görlitz einerseits geachtet wurde und andererseits doch auch immer als etwas entrückt und distanziert galt, nicht unbedingt als Einer von uns.
Das Geachtete ist leicht zu erklären. 14 Jahre lang hat Wieler ein unglaublich heterogenes Aufgabengebiet bespielt: Bauen und Schulen, Jugend und Soziales, Kultur und Stadtplanung. Der studierte Germanist musste sich statt um Partituren und Librettos um Bebauungspläne, Aufstellungsbeschlüsse, Ausschreibungen oder Kitagebühren kümmern. Er hat die Zeit hoher Fördermittel gut genutzt, fand für seine Projekte meist große Mehrheiten im Görlitzer Stadtrat, überstand schwierige Jahre unter dem früheren Görlitzer OB Joachim Paulick.
Manchmal musste er seinen Ehrgeiz aber auch etwas zügeln, beispielsweise als er die Straßenausbaubeiträge erhalten wollte, um das hohe Tempo bei den Straßensanierungen aufrechtzuerhalten. Doch der Zeitgeist wehte da schon aus einer ganz anderen Richtung.
Seine Amtsleiter waren zuletzt mit ihm ein eingespieltes Team, vor allem und als einzige mit Namen dankte er seiner persönlichen Referentin Astrid Hahn. Sie habe sich im Rathaus eine einzigartige Position erarbeitet, würde fachlich von den Ämtern respektiert und sei durchsetzungsstark. Vor allem aber dankte er ihr für ihre Widerrede, das sei anstrengend, aber ungemein produktiv und hilfreich gewesen.
Stadtrat Schulze lobt Wielers Arbeit für Görlitz
Da es keine weiteren Lobreden auf Wieler von den Stadträten geben sollte, schrieb Joachim Schulze, der grüne Stadtrat, der in der Fraktion von Wielers Bürgerverein tätig ist, auf Facebook ein paar Tage darauf, was aus seiner Sicht von der Ära Wieler bleibt: "Er hat mehr als nur seine Pflicht getan. Viele erfolgreiche Projekte zur Stadtentwicklung wären ohne ihn und sein Team nicht ,gelaufen' und Görlitz stünde nicht da, wo es jetzt ist: eine Stadt, die gut gerüstet und attraktiv ist für Investitionen in die Zukunft, in Wirtschaft, Forschung, Entwicklung, Kultur und Tourismus."
Und Schulze fügte noch einen Satz hinzu, der den Widerspruch andeutet, der im öffentlichen Bild Wielers immer zu spüren war: "Das kommt alles auch denen zugute, die ,von hier' sind oder nach 1990 dazukamen."
Die von "hier" - sie fremdelten mit Wieler bis zuletzt. Er war kein Volkstribun, redete dem Volk auch nicht nach dem Munde, so sehr er die freie Rede schätzt. Diese fehlende Volkstümlichkeit war auch einer der Gründe dafür, dass er darauf verzichtete, für das Oberbürgermeister-Amt in Görlitz zu kandidieren.
Ein Gedicht von Hilde Domin zum Abschied

Ein wenig von dieser Distanz wurde dann doch noch im Stadtrat spürbar, als Wieler eine Anekdote erzählte, mit der er erklären wollte, warum er das geworden ist, was er ist. Anekdoten, das sind meist kurze Geschichte mit einem witzigen Ende, wo sich alle Welt auf die Schenkel schlägt oder zumindest dazu lacht nach dem Motto: Wussten wir doch schon immer.
Bei Wieler war das erwartungsgemäß anders. Seine Anekdote reichte zurück in seine Bundeswehrzeit, als er seine Wehrpflicht ableistete. Bei Minusgraden hockte er zusammen mit Kameraden bei einer Übung im Schützengraben. Während die anderen schlafen konnten, fühlten sich Wielers Füße so kalt an, dass an Schlaf nicht zu denken war.
Um die Zeit totzuschlagen, erinnerte sich Wieler an das gerade überstandene Abitur. Da musste er ein Gedicht interpretieren. Es stammte von Hilde Domin, einer Schriftstellerin, die wegen ihrer jüdischen Abstammung vor den Nazis in die Dominikanische Republik floh und in Dankbarkeit für dieses Land sich später Domin nannte. Viel später kehrte sie - nach einem weiteren Aufenthalt in Spanien - in die Bundesrepublik zurück und schrieb Gedichte, die sich zunächst um die Erfahrungen des Exils, der Heimatlosigkeit und des drohenden Identitätsverlustes drehten, später um die Neuorientierung in Deutschland. So sieht es jedenfalls "Metzlers Literatur Chronik".
Im "Conrady", dem Kanon der deutschsprachigen Gedichte, sind einige Werke von Hilde Domin vertreten, darunter "Nur eine Rose als Stütze" oder "Mit leichtem Gepäck", mit der Zeile, die vielleicht einige kennen: "Du darfst einen Löffel haben, eine Rose, vielleicht ein Herz, und, vielleicht, ein Grab." Das Gedicht "Herbstzeitlose", das 1955 entstand und heute - wie es ein Germanist einmal beschrieb - fremd oder widerständig wirkt, steht nicht in diesem Kompendium.
Viele Geheimnisse zum Schluss
Wieler trug nun die sechs Strophen des Gedichts im Stadtrat einfach vor. Viele im Saal hörten das Gedicht das erste Mal, denn Hilde Domin ist in der früheren DDR kaum gelesen worden und steht auch nicht heute in der ersten Reihe der aufgelegten Schriftsteller. Für Wieler aber trug diese Nacht im Schützengraben und dieses Gedicht dazu bei, dass er den vorgeprägten Weg verließ. Er hätte ihn ins juristische Seminar einer Universität geführt, vielleicht irgendwann mal in eine Rechtsanwaltskanzlei oder ins Gericht.
Stattdessen aber studierte Wieler Germanistik, kam über die Elbland-Philharmonie ans Görlitzer Theater, das er als Intendant leitete. Eine Aufgabe, die er bis zum Ruhestand hätte ausüben können, wäre in ihm nicht doch irgendwann durch eine Anfrage die Lust aufgekommen, Bürgermeister in Görlitz zu werden. Das ist nun auch wieder Geschichte.
Ob die Stadträte aus dem Gedicht irgendein tieferes Vermächtnis Wielers heraushören konnten, ist nicht bekannt. Genauso wenig, ob er wirklich schon auf sein Leben zurückblickt wie Hilde Domin, die abschließend in dem Gedicht schreibt: "Damit wir in den Spiegel sehen und es lernen, unser Gesicht zu lesen, in dem die Ankunft sich langsam entblößt."
Wieler ging, dankte allen "bis hierher" und nahm ein weiteres Geheimnis mit: Was er nach dem 21. August macht.