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Wie Corona seinen Schrecken verliert

Was jetzt nottut: Corona-Debatte versachlichen, Durchatmen und Emotionen herausnehmen. Ein Gastbeitrag.

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Dr. Roger Hillert ist als Facharzt für Mikrobiologie und Infektionsepidemiologie im Medizinischen Labor Ostsachsen in Görlitz tätig und äußerte sich bereits seit Beginn der Pandemie in verschiedenen Interviews mit der SZ.
Dr. Roger Hillert ist als Facharzt für Mikrobiologie und Infektionsepidemiologie im Medizinischen Labor Ostsachsen in Görlitz tätig und äußerte sich bereits seit Beginn der Pandemie in verschiedenen Interviews mit der SZ. © Paul Glaser

Anmerkung der Redaktion: Angesichts der aktuellen Situation haben wir uns dazu entschlossen, diesen Beitrag jetzt frei zu veröffentlichen.

Von Dr. Roger Hillert*

Als Erstes zahle ich fünf Euro in das Phrasenschwein: Ich bin nicht 1989 auf dem Leipziger Ring gelaufen, um jetzt in einer tief gespaltenen Gesellschaft zu leben. Wollen wir es wirklich weiterhin zulassen, dass der Riss durch Familien- und Freundeskreise, Arbeitskollektive und Dorfgemeinschaften geht? Können wir es weiterhin akzeptieren, dass Impfärzte als Mörder tituliert werden und Impfskeptiker als kriminelle Dummköpfe? Und wenn wir es nicht akzeptieren wollen, was können wir dagegen tun? Wir haben es gelernt, Position zu beziehen. So weit, so gut. Unvereinbare Positionen werden im besten Fall einfach nicht mehr diskutiert („heute reden wir mal nicht über Corona“), im schlimmsten Fall wird geprügelt.

Dringend nötig: Vertrauen schaffen

Wer sich erinnert, wie die Erhöhung der Mehrwertsteuer 2006 von 16 auf 19 Prozent zustande kam, wird sich, so wie ich, nachträglich noch gruseln. Da hat eine Partei vor der Wahl gesagt, die Mehrwertsteuer wird auf keinen Fall erhöht, die andere Partei hat eine Erhöhung um ein oder zwei Prozent versprochen. Nach der Wahl waren es drei Prozent. Unabhängig davon, ob diese Erhöhung notwendig war oder nicht, mein Vertrauen in Politik ist durch diese Aktion nachhaltig und bis heute erschüttert worden. Und jetzt, sehen wir das gleiche Spiel wieder?

Vor der Wahl wurde von allen Parteien mehr oder weniger deutlich eine Impfpflicht ausgeschlossen. Jetzt nimmt die Debatte Fahrt auf, zerstört erneut Vertrauen. Und wieder unabhängig davon, ob die Impfpflicht notwendig oder medizinisch sinnvoll ist, erneut wird das Vertrauen in die Politik nachhaltig erschüttert. Wenn es also sehr schwer bis unmöglich wird, das Vertrauen in die Politik und in die Politiker kurzfristig wieder herzustellen, können wir dann wenigstens erreichen, dass dem Impfstoff vertraut wird? Ja das können wir, wenn wir die Debatte sachlich führen.

Vorbildwirkung der Labormediziner

In unserem medizinischen Labor in Görlitz arbeiten sechs Fachärzte. Bei aller Bescheidenheit kann man sagen, dass wir mit einer Facharztausbildung für Medizinische Mikrobiologie oder Labormedizin etwas mehr von Erregernachweisen und epidemiologischen Zusammenhängen verstehen als 99 Prozent der Bevölkerung in diesem Land. Mit etwas weniger Bescheidenheit kann man auch sagen, dass wir etwas mehr davon verstehen als die meisten anderen Ärzte. Warum sind wir dann alle geimpft? Ein Teil, auch ich, bereits das dritte Mal. Wir verdienen nichts an der Impfung, wir hängen durchaus verschiedenen politischen Strömungen an, wir kommen aus unterschiedlichen Ländern – und trotzdem sind wir alle geimpft.

Unsere Eltern, Kinder, Schwägerinnen, deren Kinder – Impfquote bei über 16-jährigen soweit ich das überblicke 100 Prozent! Glaubt wirklich jemand, wir setzen unser eigenes Leben oder das Leben und die Gesundheit unserer Lieben aufs Spiel, indem wir zu einer Impfung raten, die gefährlich ist? Never! Stattdessen machen wir eine Risikoabschätzung. Ein Impfstoff ist ein Medikament. Medikamente haben Nebenwirkungen bis hin zum Tod. Paracetamol tötet, Ibuprofen tötet, Penicillin tötet, die Pille tötet und ein Impfstoff kann zum Tode führen – sehr selten wie auch bei den anderen aufgeführten Medikamenten. Aber es ist nicht auszuschließen. Also wird das Risiko bewertet. Meine persönliche Bewertung finden Sie unten unter "Vor- und Nachteile von Impfung und Infektion".

Politik und Impfung sind zweierlei

Die Politik hat einen ganzen Instrumentenkasten, auf dem gespielt wird. 2-G, 3-G, Lockdown, Maskenpflicht und so weiter. Als es noch keine Impfstoffe gab, hat dieser Instrumentenkasten viele Leben gerettet, der Politik sei, auch wenn man vieles hätte besser machen können, Dank dafür. Aber ich weiß nicht, ob der Politik klar ist, was dieser Instrumentenkasten heute bedeutet. Wenn man ihn geschickt einsetzt, wird er in Phasen wie jetzt, wo die Überlastung der Intensivstationen droht, zu einer Entzerrung des Infektionsgeschehens führen. Das soll heißen, dass die Infektionen in die Zukunft verschoben werden, vielleicht in den nächsten Monat oder in das nächste Frühjahr, bestenfalls in den nächsten Winter. Und auch auf die Gefahr hin, verkürzt und damit falsch zitiert zu werden: Offensichtlich hat die Politik noch nicht verstanden, dass mit all diesen Maßnahmen keine Infektion verhindert, keine Krankheit abgemildert und kein Tod vermieden wird. Das schafft nur die Impfung.

Mehr Beratung, mehr Impfzentren

Ich werde bald 60 Jahre alt. In Portugal oder Dänemark hätte ich, wenn ich nicht geimpft wäre, schon längst mehrere Anschreiben, wahrscheinlich auch Telefonanrufe gekriegt, ob ich mich nicht impfen lassen will, man hätte mich beraten und man hätte mir vor Ort und zu einer komfortablen Zeit schon etliche Impfangebote gemacht. Und nun sind in Portugal und Dänemark die über 60-jährigen fast zu 100 Prozent geimpft, und das Leben dort ist viel freier als bei uns. Corona gibt es dort trotzdem noch, aber das Virus hat seinen Schrecken verloren! In Deutschland gibt es kein Impfregister, kein digitalisiertes Gesundheitswesen, viel zu wenig niederschwellige Angebote. Natürlich könnte man, wenn man will, immer irgendwo geimpft werden.

Aber wie kann es sein, dass man unter Umständen mehrere Stunden anstehen muss, wenn man zur Impfung geht. Wie kann es sein, dass es nach 18 Uhr oder am Wochenende kaum noch Impfangebote gibt. Ist es wirklich so schwierig, mindestens in jeder mittleren Stadt ein bis zwei Impfstellen einzurichten, in denen man sich sieben Tage die Woche mindestens bis 22 Uhr ohne Anmeldung und ohne große Wartezeit impfen lassen kann. Und eine Beratungsstelle, bei der man sich in anonymer Umgebung ohne anschließenden Impfzwang einfach mal informieren kann. Natürlich wissen wir, dass es blanker Unsinn ist, dass die Impfung unfruchtbar macht. Aber der Gedanke ist nun einmal da, er steckt tief drin in den Menschen, und nicht jeder kann das einfach so abschütteln. Darüber muss man sprechen und nicht einfach dafür verurteilen.

Genesene und Geimpfte

Ein Paradebeispiel für unsinnige Maßnahmen der Politik ist der Genesenen-Status. Wir wissen, dass Zweitinfektionen selten sind. Wir beobachten Zweitinfektionen bei Genesenen viel seltener als Impfdurchbrüche. Und selbst wenn Zweitinfektionen auftreten, führen sie ähnlich wie Impfdurchbrüche höchst selten zu schweren Erkrankungen mit Aufenthalt auf der Intensivstation. Trotzdem werden von der Politik Genesene nach sechs Monaten zu Ungeschützten gemacht, die unter Umständen nicht am gesellschaftlichen Leben teilnehmen dürfen. Jeder mit gesundem Menschenverstand begreift den Widerspruch. Genesene, die keinen positiven PCR-Test vorweisen können, aber einen positiven Antikörpertest, wissen, dass sie einigermaßen geschützt sind. Die Politik ignoriert das und hat wieder Vertrauen verspielt.

*Unser Autor arbeitet im Medizinischen Labor Ostsachsen.

Vor- und Nachteile von Impfung und Corona-Infektion

Tod

  • Nach Impfung: sehr seltene Todesfälle, insbesondere nach AstraZeneca (Sinusvenenthrombose inzwischen gut behandelbar), in % nicht messbar
  • Nach natürlicher Infektion: ca. 0,3 Prozent Todesfälle bei den Infizierten über alle Altersklassen (3 auf 1.000 Erkrankte) je älter der Patient, desto höher die Wahrscheinlichkeit, Todesfälle auch ohne Vorerkrankungen möglich, Kinder und Jugendliche fast ohne Todesfälle

Herz

  • Nach Impfung: Sehr selten Myocarditis (Herzmuskelentzündung) insbesondere nach mRNA-Impfungen vor allem bei jüngeren Männern, mit Ibuprofen und Schonung gut behandelbar
  • Nach natürlicher Infektion: Myocarditis 200 mal häufiger im Vergleich zur Impfung

Nervensystem

  • Nach Impfung: Sehr selten Guillan-Barre-Syndrom (meist vorübergehende aufsteigende Lähmungen), unter anderem nach AstraZeneca, Zusammenhang nicht gesichert
  • Nach natürlicher Infektion: Gedächtnisverlust und Alzheimer-ähnliche Erkrankungsbilder nicht selten, Guillan-Barre-Syndrom 6-mal häufiger als in Normalbevölkerung

Niere

  • Nach Impfung: Sehr selten vorübergehende Nierenschädigungen
  • Nach natürlicher Infektion: Massive Nierenschädigungen bis hin zu Nierenversagen möglich, wenn auch selten

Allgemeines Entzündungssyndrom

  • Nach Impfung: ------------
  • Nach natürlicher Infektion: Vor allem bei Kindern Schädigung verschiedener Organe Wochen bis Monate nach Infektion möglich, sehr selten

Einbau der Virusgene in Körperzellen des Menschen

  • Nach Impfung: Trotz intensiver Suche bisher nicht nachgewiesen, trotzdem nicht auszuschließen, aber ungefährlich
  • Nach natürlicher Infektion: In Einzelfällen durch ungünstige Umstände vorübergehender Einbau genetischer Informationen des Virus in Schleimhautzellen, weitgehend folgenlos für die Patienten

Allergien

  • Nach Impfung: Insbesondere nach mRNA-Impfung allergische Reaktionen möglich, selten und meist harmlos
  • Nach natürlicher Infektion: ------------

Fortpflanzungsfähigkeit

  • Nach Impfung: Keinerlei Zusammenhänge gefunden trotz intensiver Suche
  • Nach natürlicher Infektion: Erektionsstörungen und Verschlechterung der Spermienqualität nachgewiesen

Schwangerschaft und Entbindung

  • Nach Impfung: Keine besonderen Nebenwirkungen
  • Nach natürlicher Infektion: Erhöhte Anfälligkeit der Schwangeren für schwere Verläufe, offenbar höhere Frühgeburtlichkeit und Fruchttod

Langzeitschäden

  • Nach Impfung: Nicht bekannt und auch nicht zu erwarten (Impfstoff verschwindet schnell aus dem Körper)
  • Nach natürlicher Infektion: Long Covid unter anderem mit Lungen- und Hirnschäden