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Der Kampf um den Görlitzer Waggonbau

Mit dem angekündigten Stellenabbau von Alstom wollen sich viele nicht abfinden. Jetzt formiert sich eine Initiative, die neue Pläne für das Werk entwickeln will.

Von Sebastian Beutler
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Carsten Liebig hat sein ganzes Berufsleben im Görlitzer Waggonbau verbracht.
Carsten Liebig hat sein ganzes Berufsleben im Görlitzer Waggonbau verbracht. © nikolaischmidt.de

Es ist ja nicht so, dass Carsten Liebig nichts zu tun hätte. Beleibe nicht. Er ist Friedensrichter, Präsident des Fußballvereins Gelb-Weiß Görlitz, Vorsitzender des Stiftungsrates der Niederschlesischen Theater-Stiftung und Vorsitzender des Tierpark-Trägervereins, der gerade den Bau von neuen Gehegen und Parkplätzen mit Strukturwandel-Geldern vorbereitet. Doch sein Herz hängt besonders am Görlitzer Waggonbau.

Das ist auch kein Wunder. Über 40 Jahre hat er in dem Görlitzer Werk gearbeitet, zuletzt leitete er das Werk, bevor er Ende 2020 in den Ruhestand ging. Mit einem guten Gefühl, wie er damals bei der Vorstellung seines Nachfolgers auch im Beisein des sächsischen Ministerpräsidenten sagte. "Das Problemkind ist keines mehr", erklärte Kretschmer bei der Gelegenheit seinerzeit mit Blick auf den neuen Eigentümer der Waggonbau-Werke in Görlitz und Bautzen.

Doch als Carsten Liebig nun nach einem Jahr, kurz vor Weihnachten vergangenen Jahres, wieder alte Arbeitskollegen im Werk traf, da war er völlig ernüchtert von der Stimmungslage. Soeben hatte Alstom mitgeteilt, es könnten bis zu 400 Arbeitsplätze in Görlitz wegfallen, praktisch die halbe Belegschaft. Und viele Waggonbauer sahen das nur als ein weiteres Kapitel im jahrelangen Niedergang des Werkes, nichts habe sich verbessert durch den neuen Eigentümer Alstom, auf den man solch große Stücke gesetzt hatte.

Die vielen Rollen von Carsten Liebig in Görlitz: Als Vorsitzender des Tierpark-Trägervereins (rechts).
Die vielen Rollen von Carsten Liebig in Görlitz: Als Vorsitzender des Tierpark-Trägervereins (rechts). © Pawel Sosnowski
Zusammen mit Cornelia Herbst, Vorstandsvorsitzende der Freunde der Städtischen Sammlungen, präsentierte Liebig angekaufte Druckplatten des Görlitzer Kupferstechers Johannes Wüsten.
Zusammen mit Cornelia Herbst, Vorstandsvorsitzende der Freunde der Städtischen Sammlungen, präsentierte Liebig angekaufte Druckplatten des Görlitzer Kupferstechers Johannes Wüsten. © Nikolai Schmidt
Carsten Liebig als Fußballfan und Präsident des Görlitzer Vereins Gelb-Weiß Görlitz (Mitte).
Carsten Liebig als Fußballfan und Präsident des Görlitzer Vereins Gelb-Weiß Görlitz (Mitte). © Pawel Sosnowski

Meinungsverschiedenheiten über die richtige Strategie

Auch andere kamen auf Liebig zu, aus Sorge um das Werk und die Industriearbeitsplätze. Eine Sorge, die Liebig teilt. Schließlich traf er Christoph Scholze.

Der Innovationsmanager hatte in einem Gespräch mit Sächsische.de öffentlich erklärt, was andere nur hinter vorgehaltener Hand äußerten. Die Salamitaktik von Alstom sollte mit einem Angebot an den französischen Bahntechnikkonzern beantwortet werden. Statt Millionen in Abfindungsprogramme zu stecken, um sich von 400 Mitarbeitern in Görlitz zu trennen, sollte Alstom das Geld viel mehr in die finanzielle Begleitung eines Umbaus des Görlitzer Standorts stecken. Dessen Ziel: Die Trennung von den Franzosen und die eigenständige Entwicklung des Görlitzer Waggonbaus.

Der Görlitzer Betriebsratsvorsitzende René Straube, der ebenso sein ganzes Berufsleben im Waggonbau verbracht hat, war von dem Interview nicht begeistert. Er selbst befürwortet zunächst, dass der Waggonbau bei Alstom bleibt und die Franzosen ihre Konzepte für den Görlitzer Standort überdenken. Bei diesen Verhandlungen fürchtete er, könnten sich nun die Görlitzer uneins präsentieren. Ein gefundenes Fressen für die Franzosen.

Doch Straube und Scholze klärten die Dinge schnell. Jetzt sagt auch Straube, es ist gut, wenn verschiedene Strategien für die Zukunft und den Waggonbau entwickelt werden.

Genau das ist das Anliegen von Caspar Liebig und Christoph Scholze, die Mitte dieser Woche über eine eigens geschaltete Internetseite Interessierte dazu aufriefen, sich an diesem Prozess zu beteiligen. Unterstützung erhielten sie vom Görlitzer Oberbürgermeister Octavian Ursu und dem früheren sächsischen Wirtschaftsminister Thomas Jurk. "Wir wollen die Träger von Kompetenzen und Wissen aus dem Waggonbau ansprechen, Mitarbeiter, die eine Verbindung mit dem Werk haben, die Ideen haben, die die Liebe zum Produkt haben", sagt Carsten Liebig. Der Kreis ist aber nicht auf Waggonbauer beschränkt. Jeder, der mitmachen will, kann sich beteiligen. Und Christoph Scholze sagt: "Wir gehen das gemeinsam an. Je mehr sich beteiligen, umso größer ist die Schwarmintelligenz." Und damit die Chance, richtig gute Strategien für die Zukunft des Waggonbaus zu entwickeln.

Nur Protest allein hilft nicht im Arbeitskampf

Es ist die zweite Seite der Medaille beim Kampf um den Standort des Waggonbaus. Die andere Seite ist der offenkundige Protest gegen die Alstom-Pläne. Dafür gab es die spontanen Belegschaftsversammlungen mit Trommlern vor dem Werkstor, das gemeinsame Weihnachtsliedersingen von Evangelischer und Katholischer Kirche. Und schließlich der Aufruf, Kinder sollen Bilder gegen den Stellenabbau malen. Das stieß auf eine große Resonanz, wie Betriebsratsvorsitzender René Straube sagt. In der nächsten Woche soll die Aktion ausgewertet, sollen Sieger gekürt und die Bilder nach Paris zur Alstom-Zentrale gebracht werden.

Innovationsmanager Christoph Scholze gab den Anstoß für die jetzt gestartete Initiative zur Rettung des Waggonbaus.
Innovationsmanager Christoph Scholze gab den Anstoß für die jetzt gestartete Initiative zur Rettung des Waggonbaus. © Paul Glaser/glaserfotografie.de

Ganz ähnlich war auch der Arbeitskampf um das Görlitzer Turbinenwerk von Siemens vor vier Jahren verlaufen: Große Demonstrationen, eine Radtour mitten im Winter zur Hauptversammlung nach München und auf der anderen Seite eine Konzeption für die Weiterentwicklung des Standortes. Zumindest die Schließung des Werkes konnte verhindert werden, ein weiterer Stellenabbau in den nächsten Monaten indes nicht.

Scholze, der damals noch als Betriebsrat bei Siemens an den Aktionen beteiligt war, beobachtet diese Entwicklung mit gemischten Gefühlen. Vor allem sieht er eine gewisse Ohnmacht der Görlitzer Werke gegenüber den Konzernzentralen in Erlangen oder Paris. Deswegen will er nicht tatenlos zuschauen, hat mittlerweile Siemens Energy verlassen und leitet als Innovationsmanager die erste deutsche Niederlassung des in Österreich gegründeten Beratungsnetzwerkes Grantiro.

Auf der Steinstraße hat er ein Büro bezogen, in dem es dieser Tage wegen der fehlenden Heizung zwar etwas kühl ist, aber die Richtung ist klar: Grantiro will bei dem Strukturwandel in der Lausitz Firmen helfen, sich auf das neue Wirtschaften in Zeiten von Klima- und Energiewende einzustellen, neue Geschäftsfelder zu finden und dadurch Arbeitsplätze zu sichern und im besten Falle wieder aufzubauen. So wie beim Waggonbau in Görlitz.

Carsten Liebig jedenfalls ist überzeugt davon, dass der Standort mehr als 450 bis 500 Jobs verdient hat, die Alstom noch vorsieht. Dafür aber müsse das Werk wettbewerbsfähig gemacht werden. Dazu sind Investitionen nötig, die Bombardier jahrelang verschleppt hatte.

René Straube, Betriebsratsvorsitzender des Görlitzer Waggonbaus, will die Option Alstom nicht zu früh für den Görlitzer Standort aufgeben.
René Straube, Betriebsratsvorsitzender des Görlitzer Waggonbaus, will die Option Alstom nicht zu früh für den Görlitzer Standort aufgeben. © Paul Glaser/glaserfotografie.de

Waggonbauer haben etwas zu bieten

Doch zuvor muss klar sein, was Görlitz zu bieten hat und wohin sich das Werk entwickeln kann. Alles dreht sich dabei um den Rohbau von Wagen, das Kernstück der Görlitzer Produktion. "Wir können hier alle Materialien verarbeiten", sagt Liebig. Sei es Aluminium, Stahl oder schwer rostende Metalle. Das könnten nur wenige, das mache den Görlitzer Standortvorteil aus. Gleichwohl gibt es viele Fragen zu klären: Wie müssen die Produktionsabläufe organisiert werden, braucht man künftig die ganze Fläche des Werkes, ist der Einstieg in Instandhaltung und Modernisierung von Wagen, die Umrüstung von Lokomotiven auf neue Antriebstechnologien lukrativ. Klar ist für Liebig: Nur von Straßenbahnwagen kann das Werk nicht überleben.

Auch René Straube ist von der Zukunft des Görlitzer Waggonbaus überzeugt. Er sei hochinteressant für die Wirtschaft. Es gibt eine Hochschule, Industrieunternehmen, Handwerk und Gewerbe, eine "charmante Region mit viel Kultur und Natur". Das alles würde sich positiv unterscheiden von einer Monokultur wie der Tesla-Fabrik in Grünheide, wo die Sorge groß ist, dass sie alle Arbeitskräfte der Region abzieht. Dass sich auch die Waggonbau-Industrie ändern muss, ist sich Straube sicher: "Früher gab es große Rahmenverträge über die Lieferung von 800 Wagen. Das wird es nicht mehr geben. Die Kunden sind wählerischer geworden, sie wollen schnellere Produktions- und Innovationszyklen. Aber genau das können wir ihnen bieten".

Liebig und Scholze hoffen nun, dass sich viele Mistreiter für die Neuausrichtung des Werkes zusammenfinden. So wollen sie das Deutsche Schienenverkehrs-Forschungszentrum in Dresden einbinden, auch andere Partner haben sich bereits gemeldet. Am Ende soll eine Strategie stehen, die Alternativen zu der bisherigen Standortentwicklung aufzeigt. "Sie wird nicht gegen Alstom gerichtet sein", sagt Carsten Liebig. "Wir wollen als städtische Gesellschaft aktiv werden, die sich um ihre Betriebe kümmert und Alternativen zu den Abbauplänen aufzeigen will." Damit auch künftig über Generationen hinweg Familien wie die Liebigs oder die Straubes hier ein gutes Auskommen haben.

Hier kann man sich anmelden: www.standorterhalten.de