SZ + Görlitz
Merken

Kohleausstieg: Was Görlitz von Straubing lernen kann

Neue Straßen, elektrifizierte und schnelle Bahnverbindungen, Forschungsinstitute - so soll der Strukturwandel gelingen. Ein Vorbild gibt es in Bayern.

Von Sebastian Beutler
 7 Min.
Teilen
Folgen
Bereits Ende 2019 unterzeichneten Vertreter von der TU Dresden, der Stadt und des Görlitzer Siemens-Werkes Absichtserklärungen zur Zusammenarbeit.
Bereits Ende 2019 unterzeichneten Vertreter von der TU Dresden, der Stadt und des Görlitzer Siemens-Werkes Absichtserklärungen zur Zusammenarbeit. © Pawel Sosnowski/pawelsosnowski.c

Als im laufenden Tarifkonflikt in der Metallbranche die Mitarbeiter des Görlitzer Turbinenwerks von Siemens zum Warnstreik auf die Straße gingen, da bewegten nicht nur Gehaltsfragen sie. Sondern vor allem die Zukunft ihres Werkes. Kurz zuvor war bekannt geworden, dass erneut ein Sparkonzept und weitere 127 Stellen bis 2025 gestrichen werden sollen. Darüber verhandelt derzeit der Gesamtbetriebsrat mit der Spitze von Siemens Energy.

Doch zu diesem Warnstreik brach es aus dem IG-Metall-Chef von Ostsachsen, Jan Otto, heraus. "Wir brauchen keinen Siemens-Campus, wo nur geforscht wird", rief er den Mitarbeitern zu. "Wir wollen Arbeitsplätze in der Produktion. Bis heute ist da nicht draus geworden".

Ottos Worte stehen für die wachsende Ungeduld in der Bevölkerung, die wissen will, wie es jetzt beim Kohleausstieg nun mit den versprochenenen Vorhaben weitergeht. Die Politik ist im Wort, die Zeit bis 2040 zu nutzen, um für die wegbrechenden Arbeitsplätze Alternativen zu schaffen. Und mancherorts kippt die Ungeduld schon um in Widerstand gegen Projekte, wie das Wirtschaftsministerium mit der Eisenbahn-Teststrecke nördlich von Niesky erlebt.

Strukturwandel mit Infrastruktur und Forschung

Es sind vor allem zwei Hauptfelder, mit denen die Oberlausitz in den nächsten Jahren auf die Zukunft vorbereitet werden soll. Zum einen gibt es viele Pläne für eine bessere Infrastruktur: Eine Schnellstraßenverbindung von Weißwasser nach Leipzig, der Autobahnausbau der A 4, die Elektrifizierung der Eisenbahnstrecken Görlitz-Dresden und Görlitz-Berlin, um nur die größten zu nennen. Obwohl das Planungsrecht vereinfacht wurde, wird es trotzdem mehr als zehn Jahre dauern, dass es hier sichtbar vorangeht.

Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer will das politisch Erreichte aber nicht geringschätzen. Schließlich stehen die Vorhaben verbindlich in der Projektliste für den Kohleausstieg. "Da sind wir weit gekommen mit den Bundesprojekten", erklärte er jetzt im Gespräch mit Bürgern aus Niesky und Weißwasser. Dafür stehen auch die Zusage der Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, ein Bataillon mit 1.000 Soldaten in Weißwasser zu stationieren, sowie die Ansiedlung von mehr als 100 Arbeitsplätzen des Bundesamtes für Außenwirtschaft in Weißwasser.

Das andere große Feld ist der Ausbau der Forschungslandschaft. Auch das verteidigt Kretschker vehement. Fraunhofer bekam jetzt 30 Millionen Euro zugesagt, um am Siemens-Campus ein Testlabor für Wasserstoff-Anwendungen einzurichten. Ebenfalls die Fraunhofer-Forschungsgemeinschaft erarbeitet ein Konzept für die Produktion von grünen Carbonfasern in Boxberg, weitere Institute sind für Zittau vorgesehen und das Casus-Institut in Görlitz sucht größere Räume, weil es bereits jetzt schon aus allen Nähten platzt und der geplante Neubau in einer alten Gewerbebrache in der Görlitzer Altstadt noch ein paar Jahre benötigt. Die Idee hinter all diesen Wissenschaftsinitiativen: Erst wird geforscht, dann können die Erkenntnisse für den Aufbau neuer Arbeitsplätze und Betriebe genutzt werden.

Bewerbungsfrist für zwei Großforschungsinstitute läuft

Einer, der schon erlebt hat, wie das funktionieren kann, ist Professor Wolfgang Herrmann. Der 73-Jährige amtierte 22 Jahre lang als Präsident der Technischen Universität München. Jetzt ist er nicht nur Vorsitzender des Innovationsbeirates beim sächsischen Ministerpräsidenten, sondern steht auch einer Perspektivkommission vor, die im Auftrag des Bundesbildungsministeriums Vorschläge für zwei Groß-Forschungseinrichtungen unterbreiten soll. Eines ist für das Gebiet Leipzig/Halle geplant, das andere für die sächsische Lausitz. Ende April endet die Frist für die Einreichung von Ideenskizzen.

Anschließend wird die Kommission, zu der auch Astronaut Alexander Gerst und der deutsche Chemie-Nobelpreisträger Stefan Hell, gehören, vier bis sechs Bewerbungen bis Ende Juli, Anfang August aussuchen, die dann ihre Konzepte mit jeweils 500.000 Euro so aufbereiten werden, dass schließlich zwei aus diesem Kreis den Zuschlag für ein Forschungsinstitut erhalten. Die endgültige Entscheidung trifft nicht die Kommission, sondern der Bund, das Bundesbildungsministerium und die beteiligten Länder Sachsen und Sachsen-Anhalt.

Professor Wolfgang A. Herrmann leitet die Perspektivkommission, die die Bewerber für zwei Großforschungszentren sichtet.
Professor Wolfgang A. Herrmann leitet die Perspektivkommission, die die Bewerber für zwei Großforschungszentren sichtet. © © Astrid Eckert / TU Muenchen;

Jedes dieser Forschungsinstitute wird mit 170 Millionen Euro gefördert - jährlich. Gegenüber der SZ spricht Herrmann von langfristig angelegten, thematisch fokussierten Forschungsinstituten, die bis zu einigen Hundert Mitarbeiter umfassen werden. Vergleichbar dürfte das mit dem bereits bestehenden Helmholtz-Forschungszentrum in Rossendorf am Stadtrand von Dresden mit seinen rund 1.200 Mitarbeitern sein. Auch die neuen Institute sollen langfristig Themen der Wissenschaft und Wirtschaft bearbeiten und eine Leuchtturmfunktion für die Wirtschaft haben.

Herrmann ließ sich aus zwei Gründen für diese Aufgabe gewinnen. Zum einen hat er vielfältige Beziehungen mit dem Freistaat in den vergangenen Jahren geknüpft. Er knüpfte nach der politischen Wende eine Partnerschaft zwischen den Technischen Universitäten von München und Dresden. Und er hält Ministerpräsident Michael Kretschmer für einen exzellenten Politiker, den er gern unterstützen will.

Vorbild für die Lausitz: Straubing in Niederbayern

Die zweite Motivation liegt in Herrmanns Erfahrungen in seiner Heimat Niederbayern. Das östliche Bayern war strukturschwach und ländlich geprägt. Doch dann wurden Autobahnen gebaut, BMW investierte und zog viele Arbeitskräfte aus dem Bayerischen Wald an. Schließlich entschied sich die Politik unter Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber in Straubing einen Campus für Biotechnologie und Nachhaltigkeit der Technischen Universität München anzusiedeln. Bayern konzentriert seitdem alle Forschungs- und Entwicklungsarbeit auf diesem Gebiet in Straubing, finanziert 1.000 Studienplätze.

So wurde aus Straubing mit seinen 48.000 Einwohnern erst eine Wissenschafts-, später eine Universitätsstadt. Die Arbeitslosigkeit beträgt rund vier Prozent, das Bruttoinlandsprodukt liegt deutlich über dem bayerischen Durchschnitt und im Zukunftsatlas belegte die Stadt 2019 den 88. von 401 Landkreisen und kreisfreien Städten in Deutschland.

Für die Einwohner waren das wichtige Signale, erinnert sich Herrmann, der das Konzept für den Campus schrieb und mittlerweile zum Ehrenbürger von Straubing ernannt wurde. "Das waren Hinweise, dass es die Politik ernst meint", sagt er. Daraus erwuchs auch neues Selbstbewusstein und der Glaube, dass es sich lohnt, hier zu leben.

Das ist auch in der Lausitz nötig, denn in einer Umfrage der Landesregierung Anfang des Jahres äußerte zwar eine Mehrheit, gern in ihrer Heimat zu leben. Zugleich aber äußerten sie, dass die Ansiedlung von Unternehmen und die Schaffung von Arbeitsplätzen besonders wichtig sei. Das nannten 87 Prozent, gefolgt von einer guten Verkehrsanbindung (77 Prozent), Investitionen in Tourismus, Kultur und Landschaftschutz (76 Prozent). Dann folgte bereits die Ansiedlung von Bildungs- und Forschungseinrichtungen mit 68 Prozent.

Görlitz in der engeren Wahl für Großinstitut

Freilich gibt es keine Garantie, dass sich Geschichte wiederholt. Aber der Kohleausstieg, so erklärte Ministerpräsident Michael Kretschmer zuletzt vor den Nieskyer Bürgern, sei die größte Chance der Lausitz in den vergangenen Jahren. Wolfgang Herrmann ist jedenfalls zuversichtlich, dass das Straubinger Modell auch in der Oberlausitz funktionieren kann. Mit den Forschungsinstituten sollen neue Wertschöpfungsketten aufgebaut werden. Noch ist offen, welchen Wissenschaftsgebieten sich das neue Institut zuwenden wird. Aber für Herrmann steht fest, dass es eine Einheit mit den vorhandenen Potenzialen der Region und auch mit allem bilden muss, was im Strukturstärkungsgesetz verankert worden sei. Gesundheitswesen, Energiewesen, Mikroelektronik, Antriebstechnologie, Wasserstoff-Forschung, Bioökonomie - all das ist möglich.

Und dabei könnte helfen, dass die TU Dresden - ähnlich wie seine TU in München in Straubing - ein zweites Standbein auch in Görlitz aufbaut. So ist ein Zweigcampus im Siemens-Werk als Prüfstand für Antriebstechnik geplant. Zusammen mit dem Senckenberg-Institut hat die TU Dresden bereits am Internationalen Hochschulinstitut in Zittau einen Studiengäng zu Biodiversität eingerichtet. Doch Herrmann geht noch etwas weiter, wenn er sagt. "Ich erwarte, dass die Technische Universität Dresden sich hier in besonderer Weise engagiert und ihren internationalen Horizont erweitert." Denn die Lage im Dreiländereck böte einem großen Forschungsinstitut in Görlitz besondere Chancen.

Dem Ausbau von Görlitz zu einer Universitätsstadt gehörten bislang eher nicht die Sympathien Sachsens. Bis 2025 ist die Hochschullandschaft im Freistaat erst jüngst festgelegt worden. Doch ein solch großes Forschungsinstitut könnte den jahrzehntelangen Bemühungen von Görlitz eine neue Dynamik verleihen. Noch steht der Standort für das Forschungsinstitut in der Oberlausitz nicht fest. Aber Görlitz, so verriet Regierungschef Kretschmer schon im Spätsommer, ist in der engeren Wahl.

Mehr Nachrichten aus Görlitz lesen Sie hier

Mehr Nachrichten aus Niesky lesen Sie hier