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Hunderte Güterzüge im Dauerstau

Der neue, für den ganzen Osten wichtige Rangierbahnhof in Halle ist völlig überlastet. Die Bahn spielt das Problem herunter.

Von Michael Rothe
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Die gefeierte neue Zugbildungsanlage in Halle schafft auch ein halbes Jahr nach dem Start kaum ein Drittel der geplanten Leistung von 2.400 Wagen pro Tag.
Die gefeierte neue Zugbildungsanlage in Halle schafft auch ein halbes Jahr nach dem Start kaum ein Drittel der geplanten Leistung von 2.400 Wagen pro Tag. © mauritius images

Dass die Deutsche Bahn Probleme mit der Pünktlichkeit ihrer Reisezüge hat, ist nicht neu. Allein zwischen Dresden und Leipzig sind im vergangenen Jahr 400 der 9.400 Fernzüge ausgefallen, wie die FDP-Bundestagsfraktion auf Anfrage von der Bundesregierung erfuhr. Dass es aber auch im Güterverkehr klemmt und Hunderte Züge im Stau stehen, ist weniger bekannt.

Schuld an der Misere ist maßgeblich der modernisierte und erweiterte Rangierbahnhof in Halle. Der 180 Millionen Euro teure Knoten für den ganzen Osten, im Bahnsprech „Zugbildungsanlage“, war Ende Juni nach viereinhalb Jahren Bauzeit eröffnet worden. Gut 130 Weichen und 42 Kilometer Gleis wurden erneuert. Ursprünglich waren die Kosten mit 120 Millionen Euro veranschlagt worden und eine Teilinbetriebnahme Ende 2015 vorgesehen.

Die Anlage mit 36 Gleisen gehört zu den sechs großen in Deutschland. Mit ihr sollte der Einzelwagenverkehr Berlin-München und nach Südosteuropa wachsen. Sie werde „mit dem Anschluss an das mitteldeutsche Chemiedreieck und für Stahl-Verkehre von und nach Tschechien eine wichtige Drehscheibe im europäischen Schienengüterverkehr“, sagte DB-Cargo-Chef Roland Bosch zur Eröffnung. Zuvor hatte die Bahn trotz heftiger Proteste den Bahnhof Dresden-Friedrichstadt ausrangiert und auch Leipzig-Engelsdorf geschlossen.

Binnen einer Stunde können in Halle 120 Waggons sortiert werden: von funkferngesteuerten Rangierloks über einen Ablaufberg gestoßen und aus einer Bedienkanzel digital so gesteuert, dass sie exakt am vorherigen Wagen anlanden. Notfalls schiebt eine automatische Förderanlage die Waggons über die letzten Meter. Was in der Theorie und auf Werbefilmchen funktioniert, tut sich in der Praxis schwer.

Rückstaus bis nach Polen und Tschechien

Weil nur ein Bruchteil der avisierten 2 400 Waggons sortiert wurde, seien vor Weihnachten über 50 Züge aus der Region nicht in die Anlage gekommen, berichtet Mario Reiß, Aufsichtsratsmitglied bei der Deutschen Bahn und deren Gütertochter DB Cargo. Es habe Rückstaus bis nach Polen und Tschechien gegeben.

Reiß sieht sich bestätigt. „Die Anlage wird schnell an ihre Grenzen kommen“, hatte der Betriebsratschef von DB Cargo, Niederlassung Südost, zur Eröffnung prophezeit und „Stummelgleise“, zu kleine Gleismittenabstände und andere plantechnische Fehler kritisiert. Acht Einfahr-, 36 Richtungs- und zwei Ausfahrgleise führten zwangsläufig zu einem „Flaschenhals“.

Bereits seit dem 8. Dezember und „bis auf Widerruf“ galt bei DB Cargo die interne Weisung EV 262/2018 zur Entlastung von Halle. „Grund: Überlastung“, heißt es in dem Papier. Êine „Vertriebliche Information“ der DB Cargo vom 20. Dezember ist mit „Beeinträchtigungen im Netzwerk“ überschrieben. Es sei bislang „nicht gelungen, den Rückstau an Zügen wesentlich zu reduzieren (Anzahl Rückstauzüge 110)“, heißt es im 17. Update zur Problematik, das der SZ vorliegt. Insbesondere seien der Einzelwagenverkehr und die Zugbildungsanlagen mit Schwerpunkt Halle betroffen. Um den Standort zu entlasten, wurden Züge nach Nürnberg, Berlin und Seddin umgeleitet, gab es über Weihnachten Schichtverlängerungen um je vier Stunden, galt vorübergehend unter anderem ein Verbot für kurzfristige kommerzielle Sonderzüge.

Gegenüber der SZ spielt die Bahn das Problem herunter. Befragt, ob die neue Anlage die Erwartungen erfülle, gibt sich ein Sprecher wortkarg. „Die Dinge laufen im Großen und Ganzen, aber wir sind noch beim Lernen und die Anlage im Hochlaufen“, sagt er. Auf Engpässe und Verspätungen lässt er sich erst nach wiederholter Nachfrage ein. Ja, es habe Probleme gegeben, „aber jetzt ist alles abgearbeitet“, versichert er und: „Täglich werden etwa 900 Waggons bewältigt“.

Solche Aussagen machen Mario Reiß, der mit Mandat der Lokführergewerkschaft in den Aufsichtsgremien der Bahn sitz, zornig. 900 Wagen seien seit dem Start im Sommer nur einmal geschafft worden: am 2. Januar. Die Regel seien 500 bis 600 Einheiten. Und die scheinbare Normalität gebe es nur, weil viele Züge abbestellt wurden. Zudem schöne DB Cargo seine Statistik. Alles, was mehr als 24 Stunden Verspätung habe, werde nicht mehr mitgezählt.

Firmen weichen auf Straße und Konkurrenz aus

Leidtragende sind viele Unternehmen, die auf Belieferung und Abtransport per Schiene angewiesen sind. Die Papierfabrik von Stora Enso in Eilenburg etwa musste über den Jahreswechsel rund 4.500 Tonnen Papier mit 100 Bahnwaggons in Lager außerhalb des Werkes fahren. „Auch wir waren von den Schwierigkeiten im Rangierbahnhof Halle betroffen und mussten mehrere Waggons zurückholen und das Papier auf Lkws umladen, da sonst unsere Kunden die Ware zu spät bekommen hätten“, heißt es vom sächsischen Standort des finnisch-schwedischen Konzerns, der aus Altpapier unter anderem Zeitungspapier herstellt, auf dem auch die SZ gedruckt wird.

Das Sägewerk der Schweighofer Holzindustrie in Kodersdorf bei Görlitz hat jede Woche sieben bis neun Züge auf der Schiene, die vor allem gen Süden und Osten im Schnitt sechs bis acht Stunden Verspätung haben. „Richtung Westen sind Verspätungen auch bereits Normalität geworden“, sagt Thomas Kienz, kaufmännischer Leiter beim Lausitzer Ableger der Österreicher.

Es sei kein Geheimnis, dass die Deutsche Bahn Staus von bundesweit rund 100 Güterzügen durchreiche, sagt Jes-Christian Hansen, Prokurist beim Hamburger Futtermittel-Dienstleister Habema, der mit dem Agroterminal eine Zweigniederlassung in Heidenau hat. Habema fährt sein Getreide lieber mit dem DB-Konkurrenten Captrain und dessen Dresdner Tochter ITL. Die Gütersparte der Deutschen Bahn sei „ineffektiv, und es fehlen Lokführer“.

So sieht auch DB-Aufsichtsrat Reiß nur eine kurze Atempause für Halle. Die angeblich modernste Zugbildungsanlage sei „nicht ansatzweise in der Lage“, die allein in Engelsdorf erreichte Kapazität zu erbringen, schimpft er. Schon zu DDR-Zeiten hätten Dresden-Friedrichstadt und Falkenberg 4 000 Waggons geschafft. Weil sich wegen abbestellter Überholgleise Personen- und Güterverkehr gegenseitig behinderten und in den nächsten Jahren über die Hälfte der DB-Cargo-Mitarbeiter in Rente gingen, seien Staus und das nächste Chaos nicht weit.