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Haben wir verlernt, schön zu bauen?

Der „Tatort“-Schauspieler Jörg Hartmann vermisst den Mut zu einer modernen, aber traditionsbewussten Baukultur. Auch in Dresden.

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© Norbert Neumann

Von Jörg Hartmann

Anfang 1990 war ich das erste Mal in Dresden. Das Schloss war noch eine Ruine, genauso das Taschenbergpalais, die Frauenkirche ein Trümmerberg, um sie herum urbane Wüste. Und trotzdem: Ich hätte fast geheult, so schön fand ich die Reste der einstigen Pracht. Und ich dachte nur eins: Was für ein Potenzial hat diese Wahnsinnsstadt! Und, bitte, bitte, liebe Dresdner, dachte ich, macht nicht dieselben Fehler wie im Westen! Ruiniert euren Schatz nicht mit Null-Acht-Fuffzehn-Architektur!

Jörg Hartmann, geboren 1969 in Hagen, spielt den Hauptkommissar Faber im Dortmunder „Tatort“ (wieder am 31. Januar). Viele kennen ihn auch von seiner Rolle als Stasi-Offizier Kupfer in der ARD-Serie „Weissensee“.
Jörg Hartmann, geboren 1969 in Hagen, spielt den Hauptkommissar Faber im Dortmunder „Tatort“ (wieder am 31. Januar). Viele kennen ihn auch von seiner Rolle als Stasi-Offizier Kupfer in der ARD-Serie „Weissensee“. © picture alliance / dpa

Ich konnte mir Dresden damals nicht ohne Frauenkirche vorstellen, und ich wurde Mitglied im Wiederaufbauverein. Als die Kuppel Jahre später wieder stand, wollte ich keine Häuser drumherum, die auch in Dortmund, Hannover oder Castrop-Rauxel hätten stehen können. Ich wünschte mir den historischen Neumarkt. Aber warum wollte ich etwas wiederhaben, das ich nur von Bildern kannte? Warum diese Sehnsucht? Um Gottes willen, dachte ich, darf das denn sein!? Ich war doch ein junger Mensch, allem Neuen gegenüber aufgeschlossen! Oder etwa nicht?

Mir war klar, ich musste eine Therapie machen. Also ging ich durch unsere modernen Städte und schaute sie mir alle an, die lieblos hingerotzten Kisten und Container. Ich las die Gebrauchsanweisungen ihrer Erbauer, und ich dachte: Mit ihrer Hilfe wirst du die Schönheit der Bauten erkennen. Ich las die Gesänge der Feuilletonisten, die die klar reduzierte Formensprache bejubelten. Und ich dachte: Ja, gleich hab ich’s. Gleich werde ich den Würfelhusten lieben.

Ich wanderte weiter durch unsere Städte und hämmerte mir ein: Du musst versuchen, den städtebaulichen Bruch zu lieben. Du musst akzeptieren, dass unsere Städte zerstört und hässlich wieder aufgebaut wurden. Wir alle haben den Krieg zu verantworten, auch du, Jörg Hartmann! Wir alle büßen für unsere Schuld städtebaulich bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag.

Ich sagte mir: Glas, Beton und Stahl sind unverdächtig und frei von jeder Schuld. Wer damit baut, ist Demokrat. Basta. Putz, Stein und Satteldach sind traditionelle Scheiße – und deshalb: Hände weg davon! Ich lernte, das Flachdach zu lieben. Die nicht kaschierte, ehrliche Haustechnik auf ebenem Kies. Und ich begriff: Wir leben in einem freien Land, und jeder darf bauen, wie er will. Seit den traumatischen Erfahrungen mit der Nazi-Diktatur wissen wir: Regeln sind scheiße. Warum also Regeln im Städtebau? – Nein! Stopp!

Es tut mir leid, aber ich befürchte, die Therapie hat nicht viel gebracht. Natürlich sehe ich einzelne moderne Bauten, die mich begeistern, aber ich traue der Moderne keine schönen Stadträume zu. Und doch wünsche ich mir nichts mehr, als dass unsere Zeit es endlich schafft, schöne Stadträume zu kreieren. Wie kriegen wir das hin?

Was meinen wir eigentlich, wenn wir von der Moderne sprechen? Verstehen wir darunter die klassische Moderne, das Bauhaus? Ich habe den Eindruck, dass auf den meisten Hochschulen genau das gelehrt wird: Modern ist, wenn man in der Tradition des Bauhauses baut. Und obwohl diese internationale Moderne, diese Globalisierung der Architektur, zu unseren heutigen städtebaulichen Problemen führte, zu Austauschbarkeit und Monotonie, scheinen immer noch Architekturprofessoren zu dominieren, die ihren Studenten einimpfen, dass der rechte Winkel das Maß aller Dinge ist. Dem Bauhaus wurde ein Heiligenschein aufgesetzt. Warum? Weil es unbestreitbare Qualitäten zu bieten hat, keine Frage. Doch vor allem ist es ein ideologisch sicheres Pflaster, weil die Künstler des Bauhauses nämlich von den Nazis bekämpft wurden. Ich glaube, hätten die Nazis alle Gründerzeithäuslebauer zum Teufel gejagt, würden heutige Architekten wohl ganz viel Freude daran haben, Schnörkel und Stuck an ihre Fassaden zu kleben.

Warum haben so viele Architekten heute solch eine Angst vor vernünftigen Dächern? Wohin ich auch schaue, fast überall entstehen zurzeit nur Würfel mit Flachdächern. Oben wie abgeschnitten. Ohne Abschluss. Oder mit Staffelgeschoss. Für mich gehört eine abwechslungsreiche und schöne Dachlandschaft einfach dazu, wenn wir im Herzen einer traditionellen europäischen Stadt bauen. Und das Herz Dresdens ist nicht nur der Neumarkt, es geht weit darüber hinaus. Doch schon in der inneren Neustadt (Hauptstraße, Ecke Heinrichstraße z.B.) plötzlich die Orientierung an der Platte und nicht am gewachsenen noch intakten alten Umfeld.

Liebe Architektinnen und Architekten, trauen Sie sich! Bauen Sie ruhig mal ’n Satteldach, wenn’s angebracht ist! Sie sind deswegen weder spießig noch von gestern, geschweige denn ’ne rechte Socke, und es glaubt auch keiner, dass Sie sich Gartenzwerge vors Haus stellen. Bitte helfen Sie mit, jegliche Form der Ideologisierung beim Bauen zu vermeiden!

Neben den Dogmen rechter Winkel und Flachdach wird in Deutschland auch immer noch der Zwang zum städtebaulichen Bruch zelebriert. Die klassische Moderne wollte den radikalen Bruch, weil sie eine bessere Welt erschaffen wollte. Das ist aus der Zeit heraus, in der sie entstand, nachzuvollziehen. Aber macht der Bruch heute noch Sinn? Erschafft er noch eine bessere Welt? Der Bruch ist mittlerweile zum Zwang geworden. Zur Attitüde. Zur eitlen Pose.

Ich glaube, viele Architekten weigern sich einfach, schön zu bauen, weil sie Angst haben, von ihren Kollegen verspottet zu werden. Denn wer’s schön haben will, so die Befürchtung, ist ein Spießer. Der mäht seinen Rasen regelmäßig und hat Geranien auf dem Balkon. Aber wer es ungemütlicher, brüchiger bevorzugt, der hat das Image des interessanten und kritischen Zeitgenossen. Auch wenn er natürlich selbst die schöne Gründerzeitwohnung mit Parkettboden bewohnt.

Die größte und wichtigste, wahrscheinlich aber auch schwierigste Aufgabe wird es sein, wieder eine ensemblefähige Architektur zu erschaffen. Am Theater nennt man Schauspieler, die eine Menge Mätzchen auf der Bühne veranstalten, Rampensäue. Rampensäue gibt es auch im Städtebau. Aber hier wie da machen Rampensäue noch keine gute Qualität aus. Um gut zu sein, muss man zusammenspielen. Ein Ensemble sein.

Wird das an den Hochschulen und Unis überhaupt ausreichend gelehrt? Lernt man genug über Maßstäbe und Harmonien? Über Stadtensembles und die traditionelle europäische Stadt? Über die Abfolge von Plätzen und Straßen? Über Komposition? Über die Kunst der selbstbewussten Anpassung? Oder werden hier lauter miteinander konkurrierende Alphatierchen herangezogen, deren Ziel es ist, mit möglichst aufsehenerregenden Bauten in die Architekturzeitschriften zu kommen?

Wir haben alle eine Verantwortung für den öffentlichen Raum und dürfen unseren Drang zur Selbstverwirklichung nicht im Städtebau ausleben. In den eigenen vier Wänden oder mit der Rückseite, der Gartenseite eines Hauses darf meinetwegen jeder machen, was er will. Das ist Privatsache. Aber die Fassade eines Hauses ist das Gesicht der Stadt, das Gesicht des öffentlichen Raumes. Da muss klar definiert sein, was geht und was nicht.

Ein entscheidender Punkt auf dem Weg zum Ensemble ist für mich das Material, die Materialität. Es bringt keine Punkte, wenn wir Ziegel, Putz, Beton, Natursteine, Glas, Metall, Kunststeine und so weiter bunt nebeneinandersetzen. Das bringt keine Abwechslung, das bringt nur Unruhe. Schauen wir, welches Material für den Ort typisch ist, und versuchen wir, uns darauf zu beschränken. Wenn wir dieses Grundmuster geschaffen haben, können wir es an vereinzelten Stellen natürlich auch wieder brechen, das ist reizvoll. Aber wenn sich Bruch an Bruch reiht, ist das Auge überfordert, und man bekommt nur Kopfschmerzen.

Was die Materialität betrifft, so haben wir in Deutschland natürlich seit geraumer Zeit mit einem zusätzlichen Problem zu tun: dem deutschen Wärmedämmwahn. Dass wir alle ökologisch sein wollen, setze ich mal voraus. Aber was passiert mal wieder in unserem schönen Land? Blinder Aktionismus, der alle Hausbesitzer zwingt, ihre Häuser mit Styropor zu verpacken. Styroporhäuser sind nicht ökologisch, sondern eine Öko-Katastrophe. Vor allem sind sie der Tod der Baukunst, der Tod unseres architektonischen Erbes und der Tod unserer Städte.

Dass sich Ökologie und eine vernünftige Materialität nicht ausschließen, zeigt zum Beispiel Herr Kimmerle mit seinem Jüdenhof-Quartier am Neumarkt. Ich hoffe, dieses Projekt wird für viele Bauherren und Investoren ein Vorbild sein. Wenn wir massiv bauen mit gutem Material, kostet es natürlich erst mal etwas mehr. Aber mit der Zeit rentiert sich Qualität. Man kann sich bei H & M für ’n Appel und ’n Ei ’n Pullover kaufen und ihn nach einem halben Jahr wegwerfen, weil er sich dann bereits in seine Bestandteile aufgelöst hat. Man kann aber auch etwas mehr investieren und sich gleich einen vernünftigen Pullover kaufen. Von dem hat man dann aber auch lange was.

Wir Menschen sind sinnliche Wesen. Und die gebaute Umwelt muss uns etwas bieten, unsere Sinne befriedigen. Aber wie sollen glatte, kühle und monotone Fassaden dies leisten? Wir brauchen sinnliche Details, an denen das Auge Halt findet. Große glatte Lochfassaden sind tot. Denn egal, wie die Sonne steht, es gibt kein sich veränderndes Licht- und Schattenspiel. Deshalb brauchen wir Struktur und Relief. Profil. Tektonik. Details. Lebendige Fassaden, Straßenräume mit Rhythmus. Für mich gibt es nur einen Weg aus der Misere: Wir müssen die lokale Bautradition modern, zeitgenössisch interpretieren und sie ins 21. Jahrhundert weiterführen, um so eine Austauschbarkeit zu vermeiden. Diese lokale Moderne, die mir vorschwebt, erschafft ortstypische Häuser, die all das bieten, was wir an den alten Bauten so schätzen, und die trotzdem – und das ist mir wichtig zu betonen – ganz und gar Kinder unserer Zeit sind.

Noch immer ist Dresden sehr perforiert, die Altstadt noch immer nicht ganz mit dem Rest der Stadt verbunden. Pirnaische Vorstadt und Lingnervorstadt, Wilsdruffer und Seevorstadt sind zum größten Teil keine Stadt, sondern nur Siedlungsbrei. Die hier anzustrebende Urbanität ist nur mit Blockstrukturen, Nachverdichtung, Nutzungsmischung und eben einem schönen ortstypischen Ensemble zu erreichen.

Vieles bleibt noch zu tun, und ich kann nur hoffen, dass Dresden am Ende nicht überall so aussieht wie am Wiener Platz. Dann hätte diese großartige Stadt ihre Chance verspielt. Die Chancen sind da, dass es nicht so kommen muss.

Jörg Hartmann, geboren 1969 in Hagen, spielt den Hauptkommissar Faber im Dortmunder „Tatort“ (wieder am 31. Januar). Viele kennen ihn auch von seiner Rolle als Stasi-Offizier Kupfer in der ARD-Serie „Weissensee“.

Gekürzte Fassung einer Rede beim Symposium „Baukultur als Renditefaktor“ im Dresdner Hygienemuseum.

Unter dem Titel Perspektiven veröffentlicht die SZ kontroverse Texte, die Denkanstöße geben und zur Diskussion anregen sollen.