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Harter Weg zur Harmonie

Olympiasieger Dieter Grahn kennt die schwierige Suche um Auswahlteams. Eine Ausbootung vor Rio ist ihm zu forsch.

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© Robert Michael

Von Jochen Mayer

Man nehme die vier Besten – und fertig ist der beste Vierer. Schön wäre es. So einfach lässt sich ein Erfolgsteam nicht backen, wie Tim Grohmann gerade erlebt. Der Ruder-Olympiasieger hatte sich nach allen Verbandsvorgaben in den deutschen Doppelvierer für Rio gekämpft. Doch jetzt ist der Dresdner ausgebootet, musste zusehen, wie seine vier Auswahlkollegen ohne ihn zum ersten internationalen Podestplatz in dieser Saison ruderten. Schuld sind Phänomene, die sich kaum messen lassen: Harmonie und Zusammenspiel.

Im Vierer ohne Steuermann war er mit Frank Forberger (l.), Frank Rühle (2.v.l.) und Dieter Schubert (r.) ein Seriensieger.
Im Vierer ohne Steuermann war er mit Frank Forberger (l.), Frank Rühle (2.v.l.) und Dieter Schubert (r.) ein Seriensieger. © Wikimedia/BArch Bild 183-J0720-0007-001/Klaus Fran

Wie schwer es ist, die richtigen für ein Erfolgsboot zu finden, weiß Dieter Grahn aus dem legendären Dresdner Vierer ohne Steuermann, zweifacher Olympiasieger, DDR-Mannschaft des Jahres 1968. Als Achter-Bundestrainer stand der inzwischen 72-Jährige vor den Olympischen Spielen 2008 vor ähnlichen Problemen wie jetzt der Doppelvierer: Das Boot lief nicht. Seine Vizeweltmeister wurden vor Peking komplett ausgetauscht, der Trainer entmachtet.

Dieter Grahn kennt das Geschäft und die wundersamen Eigenheiten seiner Sportart. Er erlebte oft, dass die Besten im Einer oder Zweier nicht automatisch im Großboot zusammenpassen. „Rudern hat nicht nur mit Kraft, Ausdauer und Technik zu tun“, lautet seine Erklärung. Eine geheimnisvolle Größe kommt dazu: Rhythmusgefühl. „Ohne das geht gar nichts. Man muss sich gegenseitig anpassen.“

Enorme Schwungmasse unterwegs

Die Modellathleten von gut 90 Kilogramm sind auf den Rollsitzen mit enormen Schwungmassen unterwegs. „Wenn die sich nicht synchron im Boot bewegen, unterschiedlich abgefangen werden, dann holpert es spürbar.“ Sekundenbruchteile können dabei entscheidend sein. „Ruderer müssen das Gefühl im Hintern haben“, weiß Grahn. „Ein Boot wird nicht nur durch den Schlag schnell, sondern auch durch die Freilaufphase, wenn die Ruderer zum nächsten Schlag auf ihren Sitzen zurückrollen. Ein Boot will laufen, es muss aber auch die Gelegenheit dazu haben.“ Der Vorwärtsdrang darf nicht gestört sein.

Dieter Grahn hat oft genug erlebt – selbst heute noch beim Treff der Alten – wie es sich anfühlt, wenn alles zusammenpasst: „Dann ist Rudern nicht anstrengend, dann geht alles wie alleine von der Hand. Dann rutscht es, dann begeistert einen auch das Zusammenspiel.“ Ob alles passt, sich in einen Rausch steigern kann, merken Eliteruderer bei den ersten Schlägen.

Die Physik muss passen. Und dann gibt es die menschliche Komponente für Bootsharmonie. Dafür müssen die Ruderer miteinander reden, sich gegenseitig korrigieren, auch Kritik annehmen. „Nichts ist schlimmer im Boot als eine Bewegung, die andere stört“, weiß Dieter Grahn. „Da kann man sich reinsteigern. Dann ist plötzlich Kampfstimmung im Kahn, die nicht leistungsfördernd ist.“ Das ist vergleichbar mit Beziehungsstress, wenn sich Unmut anstaut, der sich manchmal nicht genau benennen lässt. Gefühle führen ihr Eigenleben, machen, was sie wollen. Die können lähmen – aber auch ein Team befeuern.

Was davon alles auf den Doppelvierer zutreffen könnte, möchte Dieter Grahn nicht sagen. Dafür fühlt er sich zu sehr als Beobachter aus der Ferne. Es ist meist ein Mix aus vielen Kleinigkeiten. „Am Wollen liegt es nicht“, legt sich der Experte fest, auch „weil Erfolg das gemeinsame Ziel ist. Und sie wissen: Sie konnten es, sind die souveränen Olympiasieger, Weltmeister.“ Natürlich nagen Misserfolge zum Saisonstart am Selbstbewusstsein, am Zutrauen.

Die große Kunst im Rudern ist für Trainer herauszubekommen, woran und an wem es liegt, wenn es im Boot nicht mehr passt. Der Radikalschnitt war der Rauswurf von Tim Grohmann, der vom Potsdamer Hans Gruhne als Schlagmann ersetzt wurde. „Mir ging dieser Personalwechsel etwas sehr schnell“, gesteht Dieter Grahn. „Ich staune, dass man Tim so rasch hat fallen lassen. Man hätte ja Positionen intern wechseln können, um Tims Kraft im Boot zu lassen. Er ist ein starker Ruderer, bringt PS ins Schiff. Darauf verzichtet doch keiner freiwillig.“ Positionsvarianten wurden durchgespielt – allerdings erst, als die Grohmann-Ausbootung beschlossen war.

Dieter Grahn weiß aus eigenem Erleben, welche schweren Entscheidungen Trainer treffen müssen. Bauchgefühl ist gefragt, um die richtige Position im Boot für jeden zu finden. „Und da weiß ich nicht, ob wirklich alles probiert worden ist?“, fragt sich der Dresdner. „Tim hat alles gemacht, was er machen konnte. Er steigerte sich zum Vorjahr, war in allen Trainingslagern dabei, hatte sein Studium reduziert. Er muss sich keinen Vorwurf machen. Aus Sportlersicht ist es schwer zu vermitteln, warum er jetzt nur als Ersatzmann nach Rio reist. Mannschaftssportarten können in Personalfragen hart sein.“

Das Boot muss leben

Ein guter Seismograf in Sachen Bootsharmonie ist die Stimmung an Bord. Die jahrzehntelange Erfahrung ist für Dieter Grahn, dass es am besten läuft, „wenn alle etwas locker sind. Das Boot muss leben. Wenn das Klima nicht passt, dann schlägt das sofort auf das Zusammenspiel und die Leistung durch.“ Deshalb sind klare Verhältnisse, klare Zuordnungen wichtig. Einer muss der Kapitän sein, „einer, der etwas zu sagen hat, dem alle glauben, was er sagt. Zu viele kleine Kapitäne sind auch schwierig“, weiß der Trainer, der aber kein Psychogramm des Doppelvierers wagt.

Er wusste, dass nach dem holprigen Saisonstart ins Olympiajahr etwas passieren musste. Vor Peking 2008 war er in ähnlicher Situation. Sein Achter kam nicht auf Touren. Es hatten sich Grüppchen gebildet, Gift für die Stimmung. Die Zeit vor den Spielen lief ihnen davon. Damals wie heute beim Doppelvierer bedauert er, dass offenbar nicht alles probiert wurde. 2008 gab es das Rennen zweier Achter gegeneinander nicht – unrunder Vizeweltmeister gegen Herausforderer, die dann tatsächlich nach Peking reisten und Letzte wurden. Diesmal wirkt Tim Grohmann wie ein Bauernopfer. Rudern gilt als eine besonders charakterbildende Sportart. Sie erfordert aber auch starke Typen, die mit harten Personalentscheidungen umgehen können.