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Hat Görlitz zu spät die Brisanz an den Schulen erkannt?

Ein einflussreicher CDU-Stadtrat kritisiert die Stadt. Es fehle eine Strategie für spezielle Hilfen.

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© Pawel Sosnowski

Von Sebastian Beutler

Görlitz. Die Stadt steht unter Druck. Es fehlen Kita-Plätze, es fehlt eine Oberschule. Grund ist nicht, dass in Görlitz gegenwärtig und vor zehn Jahren besonders viele Kinder geboren wurden. Vielmehr zieht Görlitz nach bitteren Jahren der Abwanderung so viele Zuwanderer aus dem Ausland an. Dabei spielen Flüchtlinge aus dem Nahen Osten und aus Afrika zwar auch eine Rolle. Doch die entscheidende Größe spielen die polnischen EU-Mitbürger, die seit einigen Jahren nach Görlitz strömen. Im Moment wächst ihre Zahl jährlich um 500.

Seit Monaten schreibt die SZ über diese Entwicklung. Nun räumt auch die Stadt in einer vertraulichen Studie die Lage erstmals ein. Die SZ nannte wichtige Eckpunkte exklusiv in ihrer gestrigen Ausgabe. Um der veränderten Lage gerecht zu werden, schafft die Stadt in der früheren Schule auf der Erich-Weinert-Straße in Weinhübel übergangsweise 90 Kita-Plätze. Zudem verhandelt Oberbürgermeister Siegfried Deinege mit Dresden über die Finanzierung einer neuen Oberschule für die Innenstadt. Sie soll vor allem die bestehende Oberschule an der Elisabethstraße entlasten. In der Innenstadt, so heißt es in der Studie, überlappen sich soziale Probleme und der hohe Ausländeranteil. Darauf seien die Pädagogen und Mitarbeiter in den Schulen und Kitas nicht vorbereitet. Folge sei eine immer stärker wahrnehmbare Überforderung.

Doch es gibt auch Stimmen im Stadtrat, die sich davon überrascht zeigen, dass die Stadt wiederum überrascht ist von der Entwicklung. Noch im Herbst 2016 hieß es in einer ähnlichen Studie der Stadt, dass „die Kapazitäten in Görlitz in allen Betreuungsarten ausreichend“ seien. Zu diesem Zeitpunkt war der Höhepunkt der Flüchtlingswelle bereits vorbei und damit absehbar, wie viele Familien in Görlitz vorübergehend oder auf Dauer aus den Ländern des Nahen Ostens oder Afrikas eine Bleibe haben würden. Zum anderen hielt schon damals die rege Einwanderung von polnischen EU-Bürgern an. Doch die Stadt ging seinerzeit, wie Stadtrat Michael Hannich (CDU) erklärt, wie fast alle Behörden von den Geburtszahlen aus – nicht von den tatsächlich in Görlitz lebenden Kindern. Die ganze Brisanz der Entwicklung, so vermutet Hannich, sei der Stadt wohl erst im Laufe des vergangenen Jahres bewusst geworden. Stattdessen erwecke die Stadt jetzt den Eindruck, sie „kämpfe“ schon seit Jahren. „Ehrlichkeit und Eingeständnis eigener Versäumnisse wären auch im Einfordern von Unterstützung durch das Land geboten“, findet Hannich.

Ausländeranteil höher als im Bund

Dabei könnte Görlitz auf eine wirklich außergewöhnliche Einwanderungsdynamik aus Polen verweisen, wie sie kaum eine zweite Stadt aufzuweisen hat. Wie dramatisch sich diese Einwanderung auch an den Schulen und Kitas auswirkt, wird erst im Vergleich mit bundesweiten Daten so richtig deutlich, die gestern das Statistische Bundesamt in Wiesbaden veröffentlichte. Demnach habe jeder zehnte Schüler keinen deutschen Pass. In Görlitz ist es jeder Vierte. Der Großteil von ihnen sind polnische Kinder. Doch „verschleiere“ die Stadt, so findet Hannich, diese besondere Situation. Sie zählt die Einwanderer aus Polen und Tschechien zu denen aus Ost- und Südosteuropa, wo doch beide Länder nach gängiger geografischer Einordnung zu Mitteleuropa gehören. „Gerade diese Spezifik könnte eine spezielle lex gorlicensis, also eine besondere Unterstützung durch das Land rechtfertigen“, erklärt Hannich.

Darin käme auch zum Ausdruck, dass die Europastadt Görlitz/Zgorzelec doch auf dem Weg eines stärkeren Zusammenwachsens wäre. Tatsächlich machen Ausländer mittlerweile bei den 21- bis 40-Jährigen einen Anteil von 20 Prozent an der Görlitzer Bevölkerung aus – die meisten sind polnische EU-Bürger. Der Anteil schwindet dann in den älteren Altersgruppen schnell, um bei den 71 Jahre und älteren nur noch ein Prozent auszumachen. Gerade vor dem Hintergrund, dass die Europastadt Görlitz/Zgorzelec Anfang Mai ihre Proklamation vor 20 Jahren begehen wird, unterscheide sich eben die Migrantensituation in Görlitz nach Ansicht des Christdemokraten Hannich sehr deutlich von den Vergleichsstädten wie Pirmasens oder Freiberg, die das Görlitzer Rathaus in seiner Studie herangezogen hatte. Und das erfordere eben eine andere Strategie, die öffentlich diskutiert werden müsse, sagt er, der früher einmal im Sächsischen Sozialministerium gearbeitet hat und seit Jahren im Stadtrat und Kreistag Politik für Görlitz betreibt.