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Heimkehr der Legende

Jaromir Jagr ist die Ikone des tschechischen Eishockeys. Nach 28 Jahren ist er wieder daheim – und das Land steht komplett kopf.

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© ddp/Jerome Miron

Von Hans-Jörg Schmidt, SZ-Korrespondent in Prag

Das beschauliche mittelböhmische Benatky nad Jizerou (Benatek) unweit der Skoda-Stadt Mlada Boleslav (Jungbunzlau) zählt um die 7 000 Einwohner. Das „Venedig oberhalb der Iser“, wie der Ort wörtlich sehr viel hübscher übersetzt hieße, spielte in der Geschichte schon zweimal eine Rolle: Der tschechische Nationalkomponist Bedrich Smetana lebte hier einige Jahre. Und 300 Jahre vorher, 1599, kaufte der kunst- und wissenschaftssinnige Kaiser Rudolph II. den Flecken, um ihn dem in Prag lebenden dänischen Astronomen Tycho de Brahe anzubieten. Der richtete sich hier ein Observatorium ein – fernab des geschäftigen Treibens an der Moldau.

An diesem Samstag hätte sich Benatky nad Jizerou beinahe noch einmal in die Geschichte eingetragen: mit einem eigentlich stinknormalen Eishockeyspiel der zweiten tschechischen Liga. Doch daraus wird wohl nichts. Das Stadion, in dem sich zu den Heimspielen im Durchschnitt nur 276 Zuschauer verlaufen, ist am kommenden Samstag zu klein. Mit der Kapazität von 2 000 Besuchern viel zu klein. Man wird wohl ausweichen müssen in die Arena nach Liberec (Reichenberg), in die immerhin 7 500 Fans reinpassen. „Wir hätten auch locker 30 000 bis 40 000 Karten verkaufen können“, heißt es vonseiten der Verantwortlichen in Benatky.

Der Grund ist der Gegner – die Mannschaft aus Kladno bei Prag. Die will in diesem Jahr endlich wieder den Aufstieg in die erste tschechische Liga schaffen. Das wird sie, kann man seit Dienstag relativ sicher sein. Denn: Am Samstag wird in ihren Reihen der Eishockey-Heilsbringer schlechthin über das Eis kurven, den Puck liebevoll mit seinem Schläger streicheln, seinen Mitspielern traumhafte Vorlagen geben, und – wenn es sich ergibt – das Ding selbst unnachahmlich ins gegnerische Tor bugsieren. Die Rede ist vom tschechischen Eishockeystar Nummer 1: Jaromir Jagr.

Am Mittwoch flog Jagr, aus Übersee kommend, ein, von einem gewaltigen Journalistentross begrüßt. 1990 hatte er als junger Bursche den Ausflug in die nordamerikanische Liga NHL gewagt, die mit Abstand beste Liga der Welt. Eine Mutprobe für den Spund aus dem kleinen Kladno. Dort sollte er mit den Jahren einer der absoluten Superstars werden, auf seiner Lieblingsposition, als rechter Außenstürmer.

Seine Bilanz liest sich mehr als beeindruckend: Mit 1 733 Spielen hat er die dritthäufigsten Einsätze aller Spieler jemals in der NHL. Nur 57 Duelle fehlten ihm, um auf dem Spitzenplatz zu landen und eine andere Legende zu übertreffen – Gordie Howe. Jagr hat in dieser Zeit 766 Tore erzielt, dazu mit 1 921 die zweitmeisten Punkte für Tore und Vorlagen in der Geschichte der nordamerikanischen Liga auf seinem Konto. Zweimal gewann er den begehrten Stanley-Cup mit Pittsburgh – die begehrte Meisterschaft in der NHL. Dreimal wählten ihn die Spieler der NHL selbst zum besten Aktiven einer Saison – eine Ehre der besonderen Art.

Dazu kommen die Erfolge mit dem tschechischen Nationalteam: Gold bei Olympia 1998 in Nagano, Bronze bei Olympia 2006 in Turin, zweimal Weltmeister, einmal WM-Bronze. Als er sich bei einem Championat den kleinen Finger gebrochen hatte, beteten die sonst herzlich unchristlichen Tschechen kollektiv für seine Genesung. Da gab es für die ganze Nation über Tage kein anderes Thema. Der kleine Finger von Jagr wurde zum „kleinen Finger der Tschechischen Republik“. Zwei Spiele später stand die „Hoffnung der Nation“ mit einer Manschette wieder auf dem Eis.

Zuletzt hatte Jagr in Übersee für die Calgary Flames gespielt, verletzte sich dort aber und wurde aussortiert. Auch wegen seines Alters. Jagr geht auf das Eishockey-Methusalem-Alter von 46 Jahren zu. Er ist naturgemäß ein, zwei Tick langsamer als früher, kann dafür aber besser als alle anderen das schnellste Mannschaftsspiel „lesen“. Jagr weiß ganz genau, wo er zu stehen hat, um den „tödlichen Pass“ zu spielen und seine Fans in Verzückung zu bringen. Offiziell gehört er bis zum Ende der Saison zwar noch Calgary, aber seine Rückkehr nach Tschechien sieht er selbst als endgültig an.

Überall, im Nationalteam wie in der NHL und zwischenzeitlich auch in der höchsten russischen Liga, hat er über all die Jahre die Nummer 68 auf dem Trikot getragen. In Erinnerung an seinen Opa, der bei der Invasion der Warschauer-Pakt-Staaten zur Zerschlagung des Prager Frühlings 1968 an einer durch die Okkupation hervorgerufene Krankheit starb. Seine Rückkehr jetzt ins heimatliche Tschechien lässt das ganze Land kopfstehen. Die seriöseste Zeitung des Landes, die Hospodarse noviny, räumte diesem Ereignis am Mittwoch die Titelseite und die komplette Seite 2 ein. Die Zeitung ist eigentlich ein Wirtschaftsblatt ohne eigenen Sportteil. Auch die anderen Blätter sprachen ausführlich von einer regelrecht ausgebrochenen „Jagr-Manie“.

Der Grund: Als sich die Informationen über die Rückkehr von Jagr via Internet am Dienstag verdichteten, gab es für die Fans nur eine Laufrichtung – zu den Vorverkaufskassen ihrer jeweiligen Vereine. Am Mittwoch meldeten die sämtliche Spiele gegen Kladno/Jagr als hoffnungslos ausverkauft. Dass die Klubs gleich noch einen „Bonus-Preis“ verlangten – 100 Prozent Aufschlag – versteht sich von selbst. Das macht die Zuschauer aber nicht arm. In der zweiten tschechischen Liga ist man normalerweise schon für umgerechnet drei bis vier Euro dabei. Einige Klubs erwogen sogar rasch, ihre „Heimspiele“ in der größten Arena des Landes, der Prager „O2-Arena“ auszutragen, Hunderte Kilometer vom eigenen Stadion entfernt.

Auch in Kladno denkt man darüber nach, die Heimspiele künftig in den benachbarten großen Arenen der tschechischen Hauptstadt auszurichten. Auch Jagrs Heimatklub – der ihm natürlich gehört – steht völlig neben sich. Er würde am liebsten ein völlig neues Stadion errichten, sagt Klubsprecher Vit Herald: „Aber mit solchen Plänen warten wir, bis Jaromir bei uns ist. Er muss das entscheiden. Er ist der ganz große Boss.“

Jagr wird auch darüber befinden, wie es weitergeht, sollte sein Heimatklub die Qualifikationsrunde für die Rückkehr in die erste Liga in Tschechien nicht auf Anhieb schaffen. Womöglich, so heißt es, würde er sich auch zwischenzeitlich in den Dienst eines anderen Vereins stellen, um für die Fans sichtbar zu bleiben.

Unabhängig davon, was und wie Jagr zu diesem oder einem anderen Problem entscheiden wird: Für das tschechische Eishockey ist seine Rückkehr ein Sechser mit Zusatzzahl im Lotto. Josef Reznicka, der Chef der ersten Eishockeyliga, ist fest davon überzeugt, dass Jaromir Jagr dem Eishockey im Lande einen „riesigen Aufschwung“ bringen wird. „Der Name Jagr ist einer, der in diesem nach Eishockey verrückten Land jeden aus dem Sessel reißt.“

Aber auch andere Vereine denken ernsthaft darüber nach, die Ikone zu verpflichten. Der Sportdirektor des derzeitigen Meisters im mährisch-schlesischen Trinec, Jan Peterek, sagt: „Wir wollten Jaromir Jagr schon für diese Saison verpflichten. Mehr sage ich jetzt besser nicht.“ Ähnliche Töne kommen vom Sportdirektor aus Plzen (Pilsen). Dort hat Martin Straka seine Hände im Spiel – ein früherer Mitspieler von Jagr in Pittsburgh.

In Kladno steigt inzwischen die Nervosität. „Jarda“ – wie die liebevolle tschechische Verkleinerung von Jaromir heißt – ist im Anflug. Mittwochnachmittag landete die Maschine mit dem Superstar auf dem Vaclav-Havel-Airport von Prag. Jagr fuhr von dort binnen zehn Minuten nach Kladno zu seinem Heimatklub. Der Gesundheitscheck drängte. Ohne den kann er am Samstag nicht aufs Eis. Es ist eine Pro-forma-Untersuchung. Jagr ist fit wie ein Turnschuh. Am Samstag wird er in Liberec mit Sicherheit seine unnachahmlichen Künste zeigen. Umjubelt, das ist jetzt schon klar.