Von Jens Ostrowski
Sie war bei der Anerkannten Schulgesellschaft mbH (ASG) in Nünchritz, die zum Kolping-Werk gehört, verantwortlich für die Unterbringung von Schülern und Gästen. Der Träger der Bildungsstätte samt Wohnheim bildet für den zweiten Arbeitsmarkt aus. Auch für Wacker Chemie. Mehrere Hundert Schüler lernen am Standort Nünchritz. Viele von ihnen übernachten zeitweise im Wohnheim, das die 55-jährige seit 2003 leitet. Vor dem Amtsgericht in Riesa wirft ihr die Staatsanwaltschaft gestern vor, in zwei Fällen die Buchhaltung manipuliert und Quittungen verschwinden lassen zu haben. 1 638 Euro fehlen. Der Arbeitgeber hatte die langjährige Mitarbeiterin angezeigt.
Die Angklagte kämpft schon bei Verhandlungsbeginn mit den Tränen. Sie beteuert ihre Unschuld, erhebt Mobbingvorwürfe gegen ihren Arbeitgeber. „Ich habe mir nie etwas zuschulden kommen lassen“, sagt sie. Dass das Verhältnis zwischen ihr und der Gesellschaft nicht einwandfrei ist, belegen fünf Abmahnungen und drei außerordentliche Kündigungsversuche in den vergangenen drei Jahren. Dazwischen sollte sie auch mehrfach Aufhebungs- und Änderungsverträge unterschreiben, trägt ihr Rechtsanwalt vor. Alles habe damit begonnen, dass sie sich als Betriebsratsmitglied für einen jungen Mitarbeiter eingesetzt habe, der um seinen Mindestlohn kämpfte. Zudem sei sie mehrfach zu nicht vertragsgemäßen Tätigkeiten aufgefordert worden. Mal sollte sie putzen, mal in der Weiterbildung eingesetzt werden. Weil das aber in ihrem Arbeitsvertrag nicht vorgesehen und sie dafür auch nicht ausgebildet sei, habe sie sich geweigert. „Danach hat man versucht, mich rauszumobben“, sagt die 55-Jährige. Und: „Der Geschäftsführer kommt scheinbar mit Frauen nicht zurecht, die sich nicht alles gefallen lassen.“
Immer wieder hätten ihre Vorgesetzten bei ihr nach Fehlern gesucht, sagt sie. „Wenn ich morgens zur Arbeit kam, hatte ich schon Angst vor dem, was mir wohl heute wieder vorgeworfen werden wird“, erklärt sie.
Im August 2013 wird die 55-Jährige schließlich mit zwei Unregelmäßigkeiten konfrontiert. Im Mai seien die Mietzahlungen samt Quittungen eines Schülers in Höhe von 700 Euro verschwunden, bei einer Gruppenbuchung fehle das Geld für drei ganze Zimmer. „Ich hörte zum ersten Mal davon. Auch habe ich dieses Geld ja nie entgegen genommen“, beteuert sie. Und wirklich. In beiden Fällen wurden die Rechnungsgelder von jeweils anderen Mitarbeitern der ASG in Empfang genommen.
Für den Niederlassungsleiter Matthias Scheidig scheint der Fall dennoch völlig eindeutig: Denn weil bei der Gruppenbuchung im System nachvollziehbar sei, dass die 55-Jährige einen Tag später die streitigen drei Zimmer storniert hatte, müsse sie auch das Geld entnommen haben. „Deshalb habe ich ja auch Anzeige erstattet.“ Die 55-Jährige sagt hingegen, sie habe diese Stornierungen vorgenommen, weil sie davon ausgegangen sei, dass am Vortag – als sie freihatte – von den 13 gebuchten Zimmern nur zehn in Anspruch genommen worden seien. „Erstens passiert das häufiger. Wir erheben auch keine Stornogebühren in solchen Fällen. Und zweitens befanden sich in der Kasse ja auch nur zehn Quittungen samt dazugehörigem Geld. Das habe ich ins Buchungssystem eingetragen, die drei übrig gebliebenen Zimmer storniert. Für mich war die Sache eindeutig.“
Leiter Matthias Scheidig steht gestern mit seiner Meinung alleine da. Denn mindestens ein weiterer Kollege im Wohnheim hatte im fraglichen Zeitraum arbeitsbedingt Zugriff auf die Kasse, alle zehn Mitarbeiter des Wohnheims zudem auf den Tresor, in dem auch der Schlüssel für diese Kasse aufbewahrt wurde. Oberstaatsanwältin Karin Dietze fand es ungeheuerlich, dass Gelder offenbar eingenommen und unkontrolliert in andere Hände gegeben worden sind. „Ein Kollege nahm die Gelder von den Gästen ein, übergab sie am Ende des Arbeitstags ohne gemeinsame Kassenprüfung weiter; und am nächsten Tag nahm die 55-Jährige die Kasse wieder ungeprüft in Empfang. Wer soll da noch sagen, wer wem wie viel Geld übergeben hat?“, fragt die Staatsanwältin. Erschwerend kommt hinzu, dass sich mehrere Zeugen auch noch widersprachen, wer an den besagten Tagen überhaupt Bestandteil dieser Übergabekette war.
Aus diesem Grund fällt das Urteil gestern eindeutig aus: Richter Herbert Zapf sprach die 55-jährige Nünchritzerin frei, weil nicht annähernd geklärt werden konnte, wer alles Zugriff auf das Geld hatte. Dass der Ehemann der Heimleiterin kurz zuvor noch eine Erbschaft von 13 000 Euro erhalten hatte, weist zudem darauf hin, dass es keine finanzielle Not gab, sich am Eigentum des Unternehmens zu vergreifen. Der Prozess vor dem Arbeitsgericht steht aber noch aus.