Von Manfred Müller
Großenhain. Acht Betten stehen im spartanisch eingerichteten Erdgeschoss des alten Gebäudes am Kirchplatz. Es gibt ein Bad mit Dusche, eine kleine Küche und einen winzigen Aufenthaltsraum mit einem Holztisch. „Die meisten Pilger wollen einfach nur etwas essen und dann schlafen, bevor sie am nächsten Morgen weiterziehen“, sagt Annette Pohl. Die Großenhainerin betreut abwechselnd mit fünf anderen Mitgliedern der Marienkirchgemeinde die Pilgerherberge der Röderstadt. Zwischen 400 und 500 Besucher übernachten jedes Jahr in der 72 Quadratmeter großen Unterkunft.
Die Herberge war 2004 von den Eheleuten Elsbeth und Theodor Zenker eingerichtet und betreut worden. Als die Ansprüche und der Platzbedarf größer wurden, verlegte die christliche Gemeinde ihre Pilgerunterkunft ein paar Häuser weiter an den Kirchplatz 3. Und sie schuf einen Service, der im Herbergs-Gästebuch regelmäßig mit Lob bedacht wird: das Pilger-Handy.
Unter der Nummer 0174 415 22 55 können sich Übernachtungsgäste vorher anmelden. Dabei werden Zeit und Ort für die Schlüsselübergabe festgemacht, so dass die müden Wanderer nicht unnötig herumsitzen und auf einen Betreuer warten müssen.
„Die ersten Pilger kommen so gegen 15 Uhr, sitzen dann schon draußen auf der Bank und ruhen sich ein bisschen aus“, erklärt Annette Pohl. Manchmal trifft sie die Wanderer auch schon auf dem Weg zur Unterkunft. Damit sie gleich erkannt wird, hat die Herbergsmutter einen Sticker mit der Jakobsmuschel auf ihre Tasche geklebt. Die gelbe Muschel auf blauem Grund ist das Zeichen, mit dem auch der Jakobsweg beschildert wurde.
Drei Herbergen im Altkreis
Sieben Euro kostet eine Übernachtung am Kirchplatz. Viele stecken überdies noch ein paar Münzen in den Spendentopf, weil sie die Großenhainer Herberge immer blitzsauber vorfinden. Wer vom Regen durchnässt hier ankommt, kann sich in der Küche auch einen heißen Tee zubereiten. Der größten Beliebtheit aber erfreut sich die Dusche, denn nicht alle Herbergen am Jakobsweg sind hygienemäßig so gut ausgestattet wie Großenhain.
Die Pilgerstrecke zwischen Elbe und Röder beginnt in Tauscha und führt über die Kienmühle, Schönfeld, Mühlbach, Quersa und Folbern nach Großenhain. Von hier geht es weiter nach Skassa und dann über Weißig, Roda, Glaubitz und Zeithain nach Lorenzkirch, wo man mit der Fähre nach Strehla übersetzt.
Im Altkreis Großenhain gibt es drei Herbergen: am Schönfelder Schloss, am Großenhainer Kirchplatz und im Pfarrhaus Skassa. Die Zahl der Pilger, die den Landkreis durchqueren, nimmt von Jahr zu Jahr zu. Hier fällt der Jakobsweg mit der historischen Handelsstraße Via Regia zusammen. Von Großenhain aus müsste man noch 2980 Kilometer weiterwandern, um zum Wallfahrtsort Santiago de Compostela zu gelangen. Hier kommt ein ganzes Netz von Pilgerpfaden aus ganz Europa zusammen. In der galicischen Stadt sollen der Legende nach die Gebeine des Apostels Jakobus, eines Weggefährten Jesu, liegen. Seit alters her machen sich christliche Wallfahrer auf, um am Apostelgrab ihr Seelenheil zu finden.
In der Gegenwart hat sich der religiöse Brauch etwas aufgelockert. Man pilgert etappenweise, eine Woche oder zwei – der Weg ist das Ziel. Innere Einkehr und Läuterung erhoffen sich die meisten von der anstrengenden Tour.
Für die Wegstrecke zwischen Tauscha und Skassa braucht man immerhin acht Stunden, und mit dem schweren Rucksack ist das für Ungeübte eine echte Herausforderung. „Manche sind so kaputt, dass sie nicht einmal mehr reden wollen“, sagt Annette Pohl. Die meisten Pilger aber kommen glücklich, wieder eine Etappe geschafft zu haben, am Kirchplatz an.
Viele Frauen unterwegs
Und weil es in der Mehrzahl Frauen sind, die auf dem Jakobsweg für ein paar Tage dem Alltagsstress entfliehen wollen, funktioniert auch die Kommunikation. Die Herbergsmutter empfiehlt den müden Wanderern dann eine nicht allzu weit gelegene Gaststätte, die „Blaue Laterne“ etwa, oder die „Vecchie Mura“. Manche frage nach einer Apotheke, um die wunden Füße verpflastern zu können. Oder sie wollen einen Kultur-Tipp. Da ist die Marienkirche natürlich erste Adresse.
Dass sich Annette Pohl sich ehrenamtlich um die Pilger kümmert, hat auch eine familiäre Komponente. Ihre Tochter Henriette war vor einigen Jahren auf dem Jakobsweg unterwegs – allerdings in Spanien bis zum Zielort Santiago de Compostela. „Sie hat mich auch schon gefragt, ob ich einmal mitpilgern will“, erzählt die Großenhainerin und wiegt zweifelnd den Kopf. „Aber Mutter und Tochter für zwei Wochen jede Minute zusammen – ich weiß nicht, ob das gutgehen würde.“