Von Markus Günther, Washington
Martin Anderson machte schon am ersten Tag schlapp. Der jugendliche Drogenkonsument war im Januar 2006 gerade erst durch die Aufnahmeprozedur im Verwaltungsgebäude gegangen. Da nahmen ihn die Wärter schon hart ran: Liegestütze, Dauerlauf, hinwerfen, aufstehen, Hindernisse übersteigen, weiterlaufen. Anderson war noch keine zwei Stunden im Lager, da fiel er schon erschöpft in Ohnmacht. Die Wärter schrien ihn an, schlugen ihn, versuchten, ihn mit Riechsalz wieder auf die Beine zu bringen und verlangten, dass er weiterlaufe. Anderson fiel in ein tiefes Koma und starb am nächsten Tag an Folgen eines akuten Sauerstoffmangels. Zwei Wochen später wäre er 15 Jahre alt geworden.
Der Fall des Martin Anderson ist der vielleicht spektakulärste, gleichwohl nicht der einzige Fall eines jugendlichen Delinquenten, der die jetzt auch in Deutschland viel diskutierten amerikanischen Erziehungslager nicht überlebte. 30Todesfälle, so ermittelte die New York Times, soll es in den letzten 20 Jahren gegeben haben, allerdings sind die Todesursachen im Einzelfall sehr unterschiedlich. Aaron Bacon beispielsweise soll in einem Camp im Bundesstaat Utah verhungert sein. Der Jugendliche hatte als Strafe nichts zu essen bekommen, musste aber dennoch täglich bis zu 16 Kilometer laufen. In einem anderen Lager in Utah starb eine 15-Jährige, die eine erlittene Vergewaltigung seelisch überwinden sollte, bei einem erzwungenen Langstreckenlauf.
Nicht weniger Rückfälle
Doch während viele Fälle kaum öffentliches Aufsehen erregen, hatte der Fall von Martin Anderson weitreichende Konsequenzen: Der damalige Gouverneur von Florida, Jeb Bush, entschuldigte sich bei den Eltern und ließ alle Erziehungslager des Staates schließen.
Die Drill-Offiziere, die Martin Anderson gequält hatten, wurden wegen Totschlags angeklagt–später allerdings aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Nicht nur der Staat Florida, auch die Bundesregierung in Washington hat inzwischen alle vom ihr unterhaltenen Erziehungslager abgeschafft. Zur Begründung heißt es: Eine geringere Rückfallquote im Vergleich zu Tätern, die in normalen Gefängnissen untergebracht werden, sei nicht nachweisbar. Auch laut eines Berichtes des „Christian Science Monitor“ ist die Rückfallquote keinesfalls geringer als bei den Insassen von Gefängnissen und Jugendstrafanstalten.
Doch noch gibt es in mehr als der Hälfte aller Bundesstaaten staatliche Erziehungslager. Die Idee, Anfang der achtziger Jahre in Georgia und Oklahoma erstmals praktiziert, lautet: Disziplin und militärischer Drill stärken das Selbstvertrauen und die Selbstkontrolle gefährdeter Jugendlicher. Meist dauern die Aufenthalte zwischen drei und sechs Monate und ersetzen Arrest- und Gefängnisstrafen von wesentlich längerer Dauer. In einigen US-Bundesstaaten und auch in Kanada können die verurteilten Jugendlichen selbst zwischen einem längeren Gefängnisaufenthalt und den Strapazen des Lagers entscheiden.
Helfen die Lager tatsächlich, Jugendliche wieder auf den rechten Weg zu bringen?
Bei allen Informationen über die amerikanischen Erziehungscamps sind Vorsicht und Skepsis angebracht. Denn jede Debatte über die Lager ist, auch in den USA, hoch ideologisch. Fast jeder Bericht in den Medien, aber auch die meisten „wissenschaftlichen“ Studien über die Wirksamkeit der Erziehungsprogramme verfolgen ein politisches Ziel. Den einen geht es darum, die Lager als Ausgeburt faschistoider Law-and-Order-Politiker zu verteufeln; die anderen wollen beweisen, dass den Teenagern die militärische Härte nur guttut.
Ein ideologisches Thema
Verlässliche Informationen sind in diesem ideologisch aufgeheizten Klima Mangelware. Sicher ist, dass viele Missbrauchsfälle bekannt geworden sind. Da die Wärter den ausdrücklichen Auftrag haben, den Lagerinsassen keinerlei Faulheit oder Frechheit durchgehen zu lassen, kommt es immer wieder zu gewalttätigen Übergriffen und offenbar auch schlimmen Misshandlungen. Psychologen warnen davor, dass die Erfahrung von Härte und Aggressivität nicht immer zu Disziplin und Problembewusstsein führt, sondern oft auch zur Wiederholung von Härte und Aggressivität.
Die Erwartungen, die man in den achtziger und neunziger Jahren in die Lager gesetzt hatte, wurden im Großen und Ganzen enttäuscht. Das gilt nicht nur für die betroffenen Jugendlichen, sondern in vielen Fällen auch für Erwachsenen. Als die ersten dieser „Boot Camps“ entstanden, schwärmte das US-Justizministerium noch von „einer der innovativsten und aufregendsten Formen“ des Jugendstrafvollzugs.
Teenager-Drill ab 2000 Dollar
Allerdings gibt es bis heute noch immer Fachleute, die glauben, dass ein Lageraufenthalt für bestimmte Jugendliche eine hilfreiche Schocktherapie sein kann: „Der Nutzen mag nicht so riesig sein, aber es gibt ihn“, sagt Timothy Hoover, der als Pflichtverteidiger im Staat New York kriminelle Jugendliche verteidigt, „von meinen Kunden, die ins Erziehungslager gehen, sehe ich nur die wenigsten wieder.“ Hinzu komme, dass die Lagerinsassen selbst mit ihrer Situation zufriedener seien als normale Häftlinge in der Jugendstrafanstalt.
Auch viele Eltern glauben trotz der öffentlichen Kritik offenbar weiterhin an den segensreichen Effekt eines Lageraufenthalts. Während die staatlichen Lager in die Kritik geraten sind, boomt der Markt der privaten Lager, die den Drill als kostenpflichtiges Ferienangebot oder eine Art Erziehungsanstalt samt Schulunterricht anbieten. Ab 2000 Dollar pro Monat können Teenager in einem von mehr als 100 privaten Lagern untergebracht werden.
Die Betreiber versprechen heute meistens außer militärischem Drill und eiserner Disziplin auch ein umfangreiches Sport- und Kulturangebot, von Fußball bis Chorsingen. Missbrauchsfälle in diesen Lagern sind, soweit sich das beurteilen lässt, seltener, schon weil derlei Schlagzeilen geschäftsschädigend wären. Als Maßstab der „angemessenen“ Härte geben die Betreiber an, dass sie den Jugendlichen nicht mehr abverlangen, als den Rekruten in den Ausbildungslagern der amerikanischen Armee.