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Hommage an eine eiserne Meistermacherin

Jutta Müller ist die erfolgreichste Eiskunstlauf-Trainerin der Welt. Die Legende des DDR-Sports feiert 90. Geburtstag. Eine Zeitreise durch ihr Leben.

Von Michaela Widder
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Mit Stolz führt der frühere Weltmeister Jan Hoffmann seine frühere Trainerin über den Teppich zur Ehrenloge. Kati Witt und die Chemnitzer Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig folgen.
Mit Stolz führt der frühere Weltmeister Jan Hoffmann seine frühere Trainerin über den Teppich zur Ehrenloge. Kati Witt und die Chemnitzer Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig folgen. © Kristin Schmidt

Es klingelt an ihrer Tür. „Der Chauffeur ist da“, meldet sich ein Mann an der Telefonanlage. Jutta Müller, die als bestgekleidete Frau der DDR galt, hat sich wie immer schick gemacht, als sie ihre Plattenbauwohnung in Chemnitz verlässt. Sie trägt einen grau melierten Mantel, eine passende Wollmütze, dazu einen weinroten Schal und ihre schwarze Lederhandtasche.

Der „Chauffeur“ ist einer ihrer prominenten Schüler. Jan Hoffmann, der einstige Weltklasse-Eiskunstläufer aus Dresden, holt sie mit dem Auto ab. Die erste Überraschung am vergangenen Samstagnachmittag. Die Fahrt geht zur Eishalle am Küchwald, an jenen Ort, der ihre Welt bedeutet.

Als sie mit ein paar Minuten Verspätung in der Halle eintrifft, sind alle Kameras auf sie gerichtet. Der Mythos Müller ist zu spüren. Ehemalige und junge Nachwuchsläufer stehen Spalier. Fast alle ihrer großen Sportler sind gekommen. Man sieht der Trainerlegende an, dass sie vom Alter und dem Trubel in diesen Tagen gekennzeichnet ist. Jan Hoffmann weicht ihr nicht von der Seite und bringt sie zu ihrem Platz. Zum 90. Geburtstag, den Jutta Müller an diesem Donnerstag begeht, hat der Chemnitzer Eissportclub wenige Tage zuvor eine Extra-Show aufs Eis gezaubert – eine Zeitreise durch ihre Weltkarriere.

Die resolute Dame im Pelzmantel

„Kati, so geht das nicht“, hört man die resolute Frau auf dem Eis im Pelzmantel. „Annett und Gaby sind nicht umsonst Weltmeisterinnen geworden.“ Eine Trainingssituation, wie sie Hunderte Male passierte. In der kalten Halle drehten die Mädchen unter den Augen der autoritären Jutta Müller ihre Kringel. Die Szene versetzt die Zuschauer in die Zeit zurück, als Chemnitz noch Karl-Marx-Stadt hieß.

Szenenwechsel, es ist das Jahr 1967. Auf der Leinwand läuft die „Aktuelle Kamera“, der Nachrichtensprecher kündigt den Auftritt von Gaby Seyfert an. Dann kommt ein junges Mädchen im dunkelblauen Kleidchen aufs Eis und läuft die Original-Goldkür von der EM in Ljubljana. Die alten Fernsehaufnahmen laufen im Hintergrund.

Gaby Seyfert, die im November ihren 70. Geburtstag feierte, ist gerührt, als sie sich noch mal als junge Frau laufen sieht. „Das hat alles meine Mutter geschafft – die gestrenge Frau Jutta Müller“, sagt sie ins Mikrofon. Unter ihren Fittichen sprang „Nascha Gaby“, wie sie bis heute in Russland verehrt wird, in den 1960er-Jahren in die Weltspitze, gewann zweimal WM-, dreimal EM-Gold und einmal Olympia-Silber. Die Beziehung zwischen Mutter und Tochter war ambivalent. „Das Frühstück begann mit dem Thema Eiskunstlaufen, das Abendbrot endete damit. Sie war zu mir noch ein bisschen strenger als zu den anderen Läufern“, meinte Seyfert kürzlich.

Zu DDR-Zeiten war Jutta Müller das Sinnbild der erfolgshungrigen älteren Dame, die junge Mädchen über das Eis scheuchte. Diesen strengen Blick hat sie auch mit 90 nicht abgelegt. „Wenn ich gesehen habe, dass jemand sein Talent verschleudert, konnte ich sehr ungeduldig und ungemütlich werden. Dann war ich die Treibende, Drängende und Fordernde, habe nie nachgelassen. Das ist vielleicht mein Erfolgsgeheimnis gewesen“, hat Jutta Müller mal gesagt.

Sie ist die erfolgreichste Eiskunstlauftrainerin der Welt, 57 Medaillen bei Weltmeisterschaften, Europameisterschaften und Olympischen Spielen gewann sie mit ihren Läufern – und wurde selbst DDR-Meisterin im Paarlauf. Als Trainerin war Müller morgens die Erste in der Halle und knipste abends das Licht aus.

Wieder Szenenwechsel. Ein Kerl im Karohemd läuft jetzt aufs Eis, es ist ihr Jan Hoffmann in jungen Jahren – der bis heute erfolgreichste deutsche Eiskunstläufer. Der Dresdner wurde 1974 und 1980 Weltmeister. Im gleichen Jahr holte er Silber bei den Winterspielen in Lake Placid, wo mit Anett Pötzsch eine Trainingskollegin Olympiasiegerin wurde. Sein Talent hatte Hoffmann früh nach Karl-Marx-Stadt gebracht, wo er die andere Seite, die mütterliche und fürsorgliche, der Trainerin erlebte. „Sie hat sich auch um alles Drumherum gekümmert, von der Schule bis zur Musik und dem Kostüm“, erzählt Hoffmann. „Sie war meine zweite Mutter.“

Der nächste Szenenwechsel, Rückblick ins Jahr 1988. Als die Oper „Carmen“ ertönt und eine Eiskunstläuferin im knappen roten Kleid mit bunten Federn auftaucht, weiß jeder in der Halle, wen das Mädchen darstellt: die große Katarina Witt bei ihrer olympischen Goldkür in Calgary. Das Kleid galt damals als besonders, weil es dem Image der DDR in der Welt widersprach.

Überhaupt war mit der temperamentvollen Kati alles ein bisschen anders. Jutta Müller führte das „schönste Gesicht des Sozialismus“, wie man Witt nannte, zu zwei Olympiasiegen und vier WM-Titeln. Mit ihr konnte sie Geschichten auf dem Eis erzählen, die die Menschen auch vor den Fernsehgeräten rührten. „Meine Trainerin war extrem kreativ, konnte Charaktere entwickeln“, erzählt Witt, die bei der Carmen-Kür in Chemnitz mitschwingt. „Frau Müller hatte ein Faible für das Schöne im Leben, für die Kunst, und das hat sie an ihre Sportler weitergegeben.“

Allerdings war auch ihre Beziehung zur Meistertrainerin nicht immer nur harmonisch. Wenn etwas nicht zu Müllers Zufriedenheit verlaufen ist, habe sie auf das liebevolle „Kati“ verzichtet. Stattdessen war ein lautes und deutliches „Katarina“ in der Eishalle zu hören. In Hassliebe trieb sie Kati Witt immer wieder zu Höchstleistungen und verhalf ihr zu Weltruhm, von dem die 53-Jährige bis heute lebt.

Nach der Wende „kaltgestellt“

Nach der Wende spielte die Trainerin keine große Rolle mehr. Die Deutsche Eislauf-Union zeigte dem linientreuen SED-Mitglied Müller zunächst die kalte Schulter, sie betreute aber in Chemnitz noch jahrelang Nachwuchsläufer. „Leider gehörte auch sie zu den Weltklassetrainern aus der DDR, die man nach der Wende bedauerlicherweise kaltgestellt hat“, kritisiert Witt. Für ihr Comeback bei den Winterspielen 1994 in Lillehammer hat sie Jutta Müller engagiert, damit ihre Trainerin, „den verdienten Respekt noch einmal zu spüren bekommt“.

Wie einmalig diese Weltkarriere an der Bande war, zeigt der MDR in einem neuen Film – „Die Eiskönigin aus Chemnitz“ am Sonntag 20.15 Uhr. Zur Premiere am Donnerstagabend im Klubkino der Stadt ist die Hauptdarstellerin eingeladen. Zuvor wird Müller ihren Ehrentag im kleinen Familienkreis feiern.

Ein erstes Geburstagsständchen bekommt sie schon von den Zuschauern bei der Ehrenrunde in der Kutsche durch die Eishalle gesungen. Das „Nussknacker“-Märchen im Anschluss verfolgt sie lieber im wärmeren VIP-Raum. Jutta Müller winkt noch einmal ins Publikum. Schon länger meldet sie sich in der Öffentlichkeit nicht mehr groß zu Wort.

Wie gerührt sie von der Show ist, wissen ihre vertrauten Menschen. „Beim Abschied“, erzählt Jan Hoffmann später, „hat mir Jutta Müller ins Ohr gesagt, dass sie wahrscheinlich heute nicht einschlafen kann, weil es so viele Erlebnisse sind.“