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Honig am Rücken

Shorttrackerin Anna Seidel kehrt nach einer schweren Verletzung wieder aufs Eis zurück. Dabei wirkt die Dresdnerin reifer denn je.

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© Robert Michael

Von Alexander Hiller

Ein bisschen wirkt es so, als habe Anna Seidel ihre natürliche Unbeschwertheit verloren. Aber nur dann, wenn sie an jenen Tag im Juni zurückdenkt – oder gar noch darüber redet. Wie jetzt zum ersten Mal. Es war rückblickend betrachtet ein Tag, an dem die 18-jährige Shorttrackerin gemerkt hat, wie schmal der Grat ist zwischen Erfolg und, ja, jähem Karriereende.

Die Trainingsgruppe des EV Dresden absolviert eine der ersten Übungseinheiten auf dem Eis in der Vorbereitung auf die nächste Wintersaison. Anna Seidel stolpert über einen vor ihr laufenden Kollegen, rutscht gegen die gepolsterte Bande. Und spürt – „erst einmal nicht viel“. Die erste Diagnose war schon ernüchternd: zwölfter Brustwirbel gebrochen. Die zweite alarmierend: auch die stützenden Bänder des Wirbels gerissen. Ärzte sprechen dabei von einem instabilen Bruch.

Der hätte im schlimmsten Fall gravierende Folgen haben können. „Wenn ich damit einen Autounfall gehabt hätte“, sagt Anna Seidel und spricht den Satz nicht zu Ende. Für die junge Frau wäre zumindest kein Leistungssport mehr möglich gewesen. Durch instabile Brüche an der Wirbelsäule kann das Rückenmark gefährdet sein. Anna Seidel hatte Glück. Nun zeugen äußerlich nur vier kleine Narben am Rücken von ihrem Unfall. Das Gewebe lässt sich die Schülerin jeden Abend von ihrer Mama mit Honig einreiben. „Dadurch bleibt die Narbenhaut geschmeidiger“, hofft Anna.

Ebenso wichtig ist aber, wie es in Anna Seidel aussieht – im doppelten Wortsinn. Eine kleine Platte verbindet den heilenden Brustwirbel mit dem ersten Halswirbel. Vier Titanschrauben und zwei Stäbe halten dieses Gefüge. „Das soll den kaputten Wirbel entlasten und stabil machen. Dadurch sind aber die Segmente noch etwas steif“, meint Anna Seidel. Die gerissenen Wirbelbänder müssen noch ordentlich vernarben, bis April bleiben die Platten und Schrauben im Körper.

Beinahe noch wichtiger erscheint, ob das Eistalent seelische Narben davonträgt. Die Sportschülerin vermittelt nicht den Eindruck, dass sie nachträglich die mögliche Horrorvision einer Lähmung erschreckt oder beängstigt. Vielmehr wirkt die Schülerin geerdet, gereift. Beinahe trotzig. Sie kennt die Gefahren ihrer Sportart. „Und ich habe jetzt am eigenen Leib erfahren, wie schnell das alles vorbei sein kann.“

Verletzlichkeit nimmt den Druck

Viele Genesungswünsche via Facebook haben beim Heilungsprozess und in der Zeit der gesundheitlichen Fesseln irgendwie geholfen – betont Anna. 59 Kommentare und 745 Likes erntete ihr Facebook-Posting, dass die OP gut verlaufen sei. Für eine Wintersportlerin mit überschaubarem Bekanntheitsgrad eine beachtliche Resonanz. Das Wissen um die eigene Verletzlichkeit nimmt irgendwie auch den Druck von ihr. Den Druck, dass Seidel aufgrund ihrer Erfolge, ihres jugendlichen Charmes und ihres längst nicht ausgereizten Potenzials das unverbrauchte Gesicht einer ganzen Sportart darstellen soll – und will. „Das ist für mich eine Riesenehre, dass man mir das zutraut“, sagt sie.

Seidel hat mit dem Erreichen des Olympia-Halbfinals 2014, des ersten Weltcup-Podestplatzes überhaupt für eine deutsche Läuferin, und mit EM-Bronze die Messlatte hoch gelegt. Für sich und ihre Kollegen. An derlei Leistungen ist in diesem vorolympischen Winter nicht zu denken. Erst seit dem 29. August steht Seidel wieder auf dem Eis und absolviert bis zu zwanzigminütige Kurzeinheiten. „Mir geht es eigentlich gut. Vom Kopf und vom Körper her.“

In zwei Wochen, hofft sie, kann sie voll ins Eistraining einsteigen. „Ich spüre schon noch etwas. Auf dem Eis merke ich, dass ich den Rücken nicht ganz so rund machen kann wie zuvor.“ Nicht zuletzt deshalb setzt sie sich kleine Ziele. In diesem Jahr will sie gar keine Wettkämpfe bestreiten, erst wieder ab Januar angreifen. „Ich möchte ja nicht hinterherlaufen, sondern gleich wieder Vollgas geben“, erklärt sie und lächelt dabei, ja unbeschwert.