Eine Amsel mit Interesse für Fußball und Heimweh nach der Pflegefamilie

Von Silke Richter
Rückblick: Es geschah an einem heißen Junitag in Bergen. Bestattermeister Enrico Pech entdeckte auf dem Weg zur Arbeit eine kleine Amsel. Das Jungtier taumelte auf der Straße orientierungslos vor sich hin. Beherzt ergriff der Chef des gleichnamigen Bestattungsunternehmens die Initiative und trug den Vogel behutsam von der Straße in Sicherheit, bevor er seine Fahrt fortsetzte.
Doch das schlechte Gewissen fuhr mit. Kurzerhand kontaktierte Enrico Pech seine Kollegin Diana Kremp, wohl wissend, dass sie bereits Erfahrungen im Umgang mit verlassenen und verletzten Wildtieren hat. Gemeinsam fuhren beide zurück an die Fundstelle und retteten das völlig dehydrierte und taumelnde Tier in letzter Minute vor einem Postauto, das gerade im Schritttempo auf der Dorfstraße unterwegs war und die Amsel fast überfahren hätte. Seitdem kümmert sich Diana Kremp um den Vogel, der den Namen Erich bekam (TAGEBLATT berichtete).
Neben Recherchen zur Fütterung, Pflege und artgerechter Haltung informierte sich Diane Kremp auch über das Aussehen dieser männlichen und weiblichen Artgenossen. Und so stellte sich irgendwann heraus, dass Erich eigentlich eine Erika ist, die sich bei Diana Kremp rundum wohlfühlt. Schnell hatte sich die Amsel eingewöhnt, bekam regelmäßig Futter und wurde im „Schichtdienst“ von den Familienangehörigen betreut. Seit einiger Zeit weiß Erika ganz genau was passiert, wenn der Wecker im Hause Kremp klingelt. Die Hausherrin betritt das Wohnzimmer, öffnet die Käfigtür und Erika fliegt auf ihre Schulter. Gemeinsam geht es in die Küche – zum Kaffeekochen und um das Frühstück zuzubereiten.
Das Futter muss sich Erika mittlerweile selbst erarbeiten und sie hält sich sowohl drinnen als auch draußen auf. Hier ist ein richtiges Team zusammengewachsen, das viel Zeit miteinander verbringt und voneinander lernt. Selbst die Fußball-Europameisterschaft wurde gemeinsam angeschaut. Ausgerechnet als Deutschland dran war, habe Erika auf dem Wohnzimmertisch ganz vorn, quasi in der ersten Reihe – im wahrsten Sinne wie eine Glucke – gesessen und scheinbar das Spiel auf dem Bildschirm verfolgt.
Freilich habe sie aber auch schon mal auf die Fernbedienung gekackt, berichtet Diana Kremp lachend. Selbst Hündin Aimy hat sich mit Erika angefreundet. Hin und wieder landet die Amsel auf ihrem Rücken. Und was passiert? Gar nichts! Erika gehört schon zur Familie. Aber Vögel werden irgendwann einmal flügge. Und so sehr der Gedanke an den Abschied auch schmerzt – Diana Kremp ist sich sehr wohl bewusst, dass sie nicht das Recht hat Erika ihrer Freiheit zu berauben. Und so wurden im Juli im Familienrat Pläne geschmiedet und bei Experten nachgefragt, wo man Erika am besten auswildern könne. Lara, die achtjährige Tochter von Firmenchef Enrico Pech, hat als Erinnerung sogar ein Bild von Erika gemalt, das einen Ehrenplatz bei Diana Kremp bekommen hat.
Im Garten in die Freiheit entlassen
Nach reiflicher Überlegung entschied sich Familie Kremp, Erika auf dem heimischen Grundstück in die Freiheit zu entlassen. So sei wenigstens gewährleistet, dass sie nicht komplett auf sich allein gestellt sei, falls es Probleme gibt. Und so versammelte sich die Familie an einem Samstagmorgen im Garten, um Erika gemeinsam zu verabschieden. Kaum war die Käfigtür geöffnet, flatterte die Amsel weg, ohne sich noch mal umzudrehen. Suchend schweiften die Blicke der Familie mehrere Minuten um das Haus. Doch Erika war weg – aber nicht lange.
Nach etwa einer Stunde entdeckte Diana Kremp „ihre“ Amsel auf einer Stuhllehne sitzend auf der Terrasse. Völlig erschöpft steuerte die Amsel wie selbstverständlich auf ihren Käfig zu, nahm ein Bad, fraß einen Wurm, um sich dann von ihrem ersten Freiflug zu erholen. Für Diana Kremp grenzt ihre Rückkehr an ein kleines Wunder. Seitdem kann Erika jeden Tag selbst wählen, ob sie nach ihrem Freiflug wieder nach Hause kommt oder nicht. Sollte der Käfig eines Tages leer bleiben, könnte es aber durchaus sein, dass Erika irgendwann zu Besuch kommt. Und dann vielleicht mit ihrer eigenen Familie.