Hoyerswerda. Wo hat man so etwas nur schon einmal gehört? In der Nähe einer Stadt wird ein Industriebetrieb errichtet, woraufhin die Einwohnerzahl dieser Stadt sich vervielfacht. Das war nicht nur ab 1955 in Hoyerswerda so, sondern ab 1964 auch in Perwomajskyj (Erster Mai) in der damaligen Sowjetunion. Man baute das Chemiewerk Chym-Prom für die Erzeugung von Kautschuk, Chlor und Waschmitteln. Perwomajskyj wuchs von 7.500 auf 37.500 Menschen. Heute zählt die ostukrainische Stadt in der Oblast Charkiw rund 29.000 Einwohnerinnen und Einwohner.
Nachdem im vorigen Jahr die russische Armee ins Nachbarland einfiel, verbreitete das Verteidigungsministerium in Moskau, im Chemiewerk von Perwomajsky sei ein Chlor-Lager vermint worden. Die Ukrainer wollten es sprengen, eine chemische Katastrophe herbeiführen und diese den Russen in die Schuhe schieben. So wurde es jedenfalls berichtet. Nichts dergleichen geschah jedoch. Denn das Werk ist längst geschlossen – daher der Einwohnerschwund. Bürgermeister Mykola Baksheev erzählte am Donnerstag im Neuen Rathaus von Hoyerswerda, in den verbliebenen Relikten würden inzwischen Feste gefeiert und Wettkampf-Spiele ausgerichtet. Es klang ein klein wenig nach der Nutzung der früheren Brikettfabrik von Knappenrode.
Das Stadtoberhaupt von Perwomajskyj war diese Woche mit einer Delegation schon zum zweiten Mal in Hoyerswerda. Im Februar hatte seine Verwaltung die Fühler hierher ausgestreckt und den Wunsch nach einer Städtepartnerschaft geäußert. Manche Parallelen sind sehr markant. Hier wie da gibt es Krankenhäuser, hier wie da einst von den zugehörigen Betrieben errichtete Kulturhäuser, hier wie da werden Einwohnerinnen und Einwohner über Bürgerhaushalte an der Etat-Planung beteiligt. Und der „Lauf für alle“ von Perwomajskyj erinnert schon sehr an den „Hoywoj-City-Lauf“ des SC. Nach einem ersten persönlichen Kontakt Ende März standen nun am Donnerstag Gespräche mit Vertretern von Seenland-Klinikum und Wohnungsgesellschaft auf dem Programm. Vom Hubschrauberlandeplatz des Krankenhauses und vom Elfgeschosser Stadtpromenade 11 hatten die Gäste gleich zweimal einen Rundumblick auf Hoyerswerda aus der Höhe. Im Neuen Rathaus unterschrieben Mykola Baksheev (Allukrainische Vereinigung Vaterland) und sein Kollege Torsten Ruban-Zeh (SPD) dann eine Absichtserklärung, an einer Städtepartnerschaft arbeiten zu wollen. Kommunale Beziehungen sollen der Ukraine helfen, die Verbindungen in die EU zu stärken. Ukrainische Gemeinden sind angehalten, dazu jeweils drei Partnerschaften aufzubauen. Und so war Baksheev erst im April in Gubens polnischer Nachbarstadt Gubin. Auch dort ging es um die Unterzeichnung einer Absichtserklärung.
Olaf Dominick aus dem OB-Büro sagt, nach dem Termin am Donnerstag wolle man nun den Stadtrat mit der Angelegenheit befassen. Laut Perwomajskyjs Bürgermeister soll die Partnerschaft langfristig angelegt sein: „Wir denken an die Entwicklung nach dem Krieg.“ Immerhin: Die Front ist nur hundert Kilometer entfernt. Sie stand aber auch schon näher. Es sind auch zahlreiche Menschen vor dem Beschuss von Charkiw nach Perwomajskyj geflüchtet. Baksheev nennt die Sicherheitslage in seiner Stadt aber stabil. Daher hat er auch schon die Einladung zu einem Gegenbesuch ausgesprochen. Im Sommer sei seine Heimat wie die ukrainische Flagge: goldgelbes Korn unter tiefblauem Himmel.