Merken

„Ich setze mich bewusst auf Tristan-Diät“

Christian Thielemann über Wildheiten im Festspielhaus Bayreuth, das Gute am Kapitalismus und Lust auf Helene Fischer.

Teilen
Folgen
© Matthias Creutziger

Erwartungsfrohe Stimmung auf dem Hügel. Selten schwärmten in den vergangenen Jahren die Beteiligten einer Produktion der am Mittwoch beginnenden Bayreuther Festspiele so von der Arbeit wie jetzt bei der Eröffnungspremiere mit Richard Wagners „Lohengrin“. Auch dem Dirigenten und Festival-Musikchef Christian Thielemann geht es so: Beim alljährlichen Sommerinterview mit der Sächsischen Zeitung kommt der 59-jährige Chefdirigent der Sächsischen Staatskapelle gut gelaunt ins Festspielhaus. „Das wird ein Abend, Herr Klempnow. Schießen Sie los!“, sagt er und redet über das inspirierende Tun mit dem Maler-Ehepaar Neo Rauch und Rosa Loy, das die „Lohengrin“-Ausstattung schuf, über die Dresdner Flitterwochen und sächsische Schönheiten.

Herr Thielemann, warum machen Sie Musik?

Hoh, ho, ho, das ist ja ein Einstieg! Ich mache es, weil es mir schon immer Spaß gemacht hat. Eine Absicht verfolge ich nicht damit. Es hat sich so ergeben. Ich hatte keine andere Wahl sozusagen.

Und der Reiz ist unverändert da?

Jetzt macht es doch erst richtig Spaß. Dank der Erfahrungen, die ich habe, kann ich gewisse Dinge besser steuern. Ich habe einen besseren Überblick, sehe Dinge eher kommen, kann sie im Vorfeld vermeiden oder drauf zu arbeiten. Und manchmal, wenn ich merke, es kommt etwas besonders Verführerisches, kann ich es ausreizen oder mindern. Ich habe heute mit gut 40 Berufsjahren einen Langzeitüberblick über die gesamten Werke. Da pflege ich folgendes Ritual: Vor einem Konzert, vor einer Oper schließe ich die Augen und denke an das Ende des Werks. Da muss ich hin! Also versuche ich, eine Linie zu finden, die vom Anfang- bis zum Schlusston führt. Das kriegt man durch Erfahrung hin.

Bestimmte Werke haben Sie schon so oft musiziert, trotzdem proben Sie und frickeln jedes Mal neu und intensiv!

Ich lasse die Stücke ja zwischendurch lange liegen. Wenn ich beispielsweise nächstes Jahr für die Osterfestspiele von Salzburg die „Meistersinger“ mache, dann spiele ich dieses Stück nach 13 Jahren Pause das erste Mal wieder. Zugegeben, ein „Lohengrin“ ist mir öfter untergekommen. Aber ich nehme mir Pausen und gehe dann wieder frisch an die Werke heran. Ich benutze auch immer Partituren ohne Einzeichnungen, damit ich gezwungen bin, das ganze Ding noch einmal neu zu lesen.

Eingerichtete Noten würden den Musikern nicht bei Klippen helfen können? Ich finde, die Gestik eines Kapellmeisters muss dem Orchester alles vermitteln. Wenn ich groß schlage, bedeutet das „laut“. Schlage ich klein, bedeutet es „leise“, eckig steht für „akzentuiert“, weich für „weniger akzentuiert“. Würde alles auf den Notenblättern eingezeichnet sein, würde ja kein Musiker mehr zu mir schauen. Und es wäre auch kaum Raum für Spontanes.

Seit 21 Jahren verbringen Sie den Sommer in Bayreuth, erst als Assistent, ab 2000 als Dirigent. Null Bock auf Urlaub?

Den mache ich im September, wenn es überall leer wird. Nein, die Region Bayreuth ist ein idealer Ort. Wenn man nach den Proben und Aufführungen, den ganzen Wildheiten des Festspielhauses, über drei Hügel fährt, wird es ruhig. Es gibt nichts Schöneres, als auf der Terrasse meiner Ferienwohnung, gut 20 Kilometer vom Festspielhaus entfernt, zu sitzen und ein Buch zu lesen. Klar, der Sommer in Bayreuth ist keine Erholung, sondern intensives Arbeiten. Denn ich setze mich das restliche Jahr bewusst auf Diät mit den Stücken, beispielsweise auf „Tristan“-Diät. Den dirigiere ich seit Jahren nur in Bayreuth. Das heißt, die erste Probe ist circa elf Monate nach der letzten Vorstellung. So wird das Stück jedes Jahr anders. So wie jetzt „Lohengrin“. Ich muss ihn ganz anders dirigieren als in Dresden. Damit hatte ich nicht gerechnet. Das liegt an den akustischen Besonderheiten des Grabens und dem schönen, wunderbar großen Bühnenbild, das die Akustik auch verändert. Insofern betrete ich bei meinem allerersten „Lohengrin“ in Bayreuth Neuland. Mit ihm bin ich dann alle zehn bei den Festspielen gespielten Opern durch. Mal sehen, was dann kommt!

Neo Rauch und Rosa Loy haben Bühnenbild und Kostüme geschaffen. Wie kamen Sie auf den Malerfürsten?

Den Neo habe ich bei einem Essen mit dem ehemaligen Ministerpräsidenten Stanislaw Tillich kennengelernt. Natürlich kannte ich seinen Namen und Bilder von ihm. Und mich hat oft beschäftigt, ob er seine Motive und Farbwahl erklären könnte. Also fragte ich und bekam zur Antwort: „Das muss so sein!“ Eine Begründung hatte er nicht. Das hat mich extrem beeindruckt, weil alle Leute immer alles erklären wollen. Was habe ich da schon gehört. Wenn ein Dirigent abends ein Steak isst, schlägt er energievoller und so. Alles Quatsch! Ich halte Neo Rauch für ein veritables Genie von einer ungewöhnlichen Natürlichkeit.

Warum „Lohengrin“?

Auf „Lohengrin“ konnten wir uns sofort einigen. Da hätte er so starke Assoziationen schon allein bei dem Namen. Er könne aber nicht sagen, welche. Irgendwie sei da was gewesen. Da passt er wunderbar zu meinem Musizieren. Wenn ich denke, ich habe das schon strukturell durchdrungen und trotzdem bleibt am Ende etwas offen, Unerklärbares. Warum mache ich Musik? Weil ich Musik mache. Man muss nicht hinter allem einen Grund suchen. Das haben mir Neo und Rosa wieder bestätigt.

Die Rauchs haben erstmals fürs Theater gearbeitet. Oft vergaloppieren sich Debütanten. Sind die Ideen stückdienlich?

Sehr, sehr. Alle waren extrem kooperativ. Seit sechs Jahren hat sich Neo mit dem „Lohengrin“ beschäftigt. Auch mit dem jungen amerikanischen Regisseur Yuval Sharon war es eine reine Freude. Die haben sich gut verstanden, obwohl Yuval nach der Absage des ersten Regisseurs in ein fertiges Konzept eingestiegen ist. Er hat zum Gesamtkunstwerk von Neo und Rosa eine eigene, sich integrierende Sprache gefunden.

Dabei sprang dreieinhalb Wochen vor der Premiere der Tenor Roberto Alagna ab. Da flattern doch die Nerven, oder?

Die Irritationen waren nur kurz. Ich habe mein Telefonbuch gezückt und Piotr Beczala angerufen. Sie erinnern sich, er war 2016 in der Semperoper an der Seite von Anna Netrebko ein fantastischer Lohengrin. Er sagte erst ab. Nach drei SMS von mir kam er dann doch und wurde vom Ensemble mit Applaus empfangen. Da sind wir wieder beim Thema Überblick: An welchen Stellen muss ich Gas geben, wo weniger.

Warum hatten Sie nicht von Anfang an auf Piotr Beczala gesetzt?

Das liegt an der langen Vorplanung von Bayreuth. Piotr Beczala ist ein intelligenter und vorsichtiger Sänger. Ich habe schon länger mit ihm über Lohengrin gesprochen. Und damit ist er einer der wenigen Sänger in meiner Karriere, die ich von einer Partie überzeugt habe. Normalerweise mache ich das nicht. Ich bin kein Dirigent, der Leute zu etwas drängt, und dann ruinieren sie sich vielleicht die Stimme. Nein, wir beide wollten erst sehen, wie ihm der Lohengrin in Dresden gelingt. Zeitlich brauchten wir aber in Bayreuth Planungssicherheit. Deshalb wurde Alagna engagiert.

Die jüngste Dresdner Saison war auch eine in Dur. Sie haben den Vertrag als Kapellen-Chef von 2012 bis 2024 verlängert. Wer hat wen mehr beeinflusst?

Für mein Gefühl befinden wir uns musikalisch immer noch in den Flitterwochen. Ich habe langsam ein osmotisches Verhältnis zur Kapelle, die Musiker offenbar auch zu mir. Das spüre ich besonders, wenn ich woanders hinkomme. Das sind alles nur Orchester, die ich lange und gut kenne und auch schätze. Was ich an den Dresdnern habe, merke ich dort noch mehr: Wie die Dresdner schon vorher reagieren, bevor ich ein Zeichen gebe. Das liegt daran, dass wir uns kennen und dass wir repertoiremäßig ein breites Feld beackern. Es gibt eine große Natürlichkeit und deshalb war klar, dass man dies nicht unterbrechen sollte.

Kann man sich da noch steigern?

Ich glaube, ja. Voraussetzung ist, dass die gute Laune erhalten bleibt. Es ist ja so, dass wir oft nicht wissen, warum wir an bestimmten Abenden so gut spielen. Klar, es ist schön, wenn es daheim appetitlich angerichtet ist. Sie kennen das Goethe-Zitat „Warum in die Ferne schweifen“? So ist es.

Wie gut kennen Sie Sachsen? Angeblich müssten Sie nur noch nach Zwickau.

Auch da war ich schon. Da ich ja aus zeitökonomischen Gründen im Hotel lebe, muss ich mich nicht um den Haushalt kümmern. So habe ich mehr Zeit für Dresden und Ausflüge. Sachsen ist so herrlich. Allein der Weg nach Muskau ist ein Traum. Ich mag Zittau, Bautzen und Görlitz, überhaupt das Dreiländereck. Ich mag Freiberg mit seinen Orgeln, die Schlösser und Parks wie Zabeltitz. Da kann ich Tage zubringen.

Für Verwunderung sorgte das Silvesterkonzert, weil Sie Schlager auch aus der braunen Ufa-Zeit wählten. Ein Fehler?

An dem Abend waren alle begeistert. Und die Wellen im Vorfeld kamen mir vor wie ein kollektiver Beißreflex der Feuilletons. Dabei müsste man noch viel mehr dieser Kompositionen machen. Das sind allesamt tolle Sachen, zumal ich bei der Recherche auf die fantastischen Stücke von Marek Weber gestoßen bin. Von dem weiß heute kaum einer was, weil er ins Exil nach Amerika musste. Die meisten wie Friedrich Hollaender und Franz Grothe haben erstaunlicherweise zur gleichen Zeit studiert und waren alle klassisch ausgebildet. Manche konnten bleiben, andere mussten das Land verlassen. Ich weiß, dass ich immer wieder dafür angefeindet werde. Für mich zählten nur die Noten. Musik ist unpolitisch.

Warum machen Sie nicht weiter?

Ja, man müsste die fünf Größten dieser Zeit herauspicken und dann würde man nicht mehr unterscheiden können, wer hat denn nun „Von Kopf bis Fuß“ und wer „Nur nicht aus Liebe weinen“ komponiert. Das ist alles klasse Musik! Ich will das fortsetzen, lasse mich ja sowieso nicht aufhalten. Max Raabe wäre mal eine Idee. Und auch Helene Fischer. Vielleicht hätte die mal Lust, bei uns aufzutreten? Aber nicht mit ihren üblichen Titeln, sondern Sachen, die zu uns passen.

Reicht denn deren Stimme?

Das müsste sie sagen. Ich überzeuge niemanden gegen seinen Willen. Sie wissen doch: Wer überzeugt wird gegen seinen Willen, bleibt seiner Meinung treu im Stillen. Vielleicht hätte Frau Fischer Interesse an Filmschlagern mit uns? Das würde ihr Image um andere Farben erweitern.

Unlängst feierte die Welt den 200. von Karl Marx. Was sagt der Ihnen?

Auf jeden Fall ein kluger Kopf, der mit seiner analytischen Kapitalismus-Kritik recht hatte. Aber er hat versäumt zu sagen, wie man es besser machen soll. Insofern ist das wie bei so vielen schönen Theorien – die Denker haben keine Lösung. Eines aber fällt mir ein, weil wir ja hier in Bayreuth sind. Karl Marx und Richard Wagner haben viel gemeinsam. Kluge Köpfe, menschlich schwierig. Aber das Persönliche ist egal, wenn – wie bei Wagner – die Musik losgeht. Und beide gehören zu den in Büchern meistporträtierten Menschen. Es gibt nur noch mehr Bücher über Jesus.

Zurück zu Ihrem Bühnenpartner Neo Rauch. Besitzen Sie Kunst von ihm?

Nein. Bislang konnte ich mir das finanziell nicht vorstellen. Aber ich halte die Summen, die er erzielt, für richtig. Neo gehört, obwohl er mit 59 Jahren noch relativ jung ist, in den deutschen Kunstolymp. Da gefällt mir der Kapitalismus wieder sehr. Im Gegensatz zu den Anlageobjekten wie Picasso oder Van Gogh, die dann im Safe landen, sind die Preise für Neos Bilder eine relativ deutliche Wertung und Würdigung seiner Arbeit zugleich. Für mich jedenfalls haben die Professionalität und Freundlichkeit von ihm und Rosa Loy die Arbeit am „Lohengrin“ bereichert. Die Kraft ging in die Kunst und nicht in Machtspielchen.

Das Interview führte Bernd Klempnow.

Der Bayerische Rundfunk überträgt die „Lohengrin“– Premiere am 25. Juli ab 16 Uhr per Video-Livestream auf www.br-klassik.de. Die Fernsehfassung sendet 3 sat am 28. Juli ab 20.15 Uhr.