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Im Dschungel der Wahrheiten

Ein 44-Jähriger aus Bautzen soll einem neun Jahre alten Mädchen zwischen die Beine gegriffen haben. Um den Fall aufzuklären, setzt das Gericht auf einen Lügendetektor.

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Von Franziska Klemenz

Bautzen. Gibt es Wahrheit? Zumindest nicht die eine, sagen viele. Mühsam kämpfen Gerichte sich durch eine Vielzahl von Prozesstagen und Zeugen, Gutachten und Beweismitteln, ehe sie zu einem Urteil kommen. Im Bautzener Amtsgericht lief es am Dienstag anders. Es ging um Missbrauch. Ein Bautzner soll im November 2013 der Stieftochter seines Bruders zwischen die Beine gefasst haben, die damals Neunjährige gedrängt haben, ihn zu berühren.

Der Angeklagte steht zu Prozessbeginn im Amtsgericht in Bautzen neben der Rechtsanwältin Kathleen May im Verhandlungssaal.
Der Angeklagte steht zu Prozessbeginn im Amtsgericht in Bautzen neben der Rechtsanwältin Kathleen May im Verhandlungssaal. © dpa

Der eigentliche Protagonist im Prozess ist nicht der Angeklagte Jens M. Es ist ein silberner Koffer, den eine kleine, grauhaarige Frau hereinträgt. Die Gerichtspsychologin Gisela Klein öffnet ihr glänzendes Gepäck. Braune Drehknöpfe kommen zum Vorschein, daneben feine, gebogene Nadeln, die von den Knöpfen auf ein Blatt Papier führen. Es ist ein Lügendetektor, im Fachjargon Polygraf genannt. Während der Befragung misst der Polygraf Indikatoren wie Blutdruck, Puls oder Atmung. Gutachter lesen aus den auf Papier entstehenden Zacken die Reaktionen des Befragten ab.

Die Schnittstelle zwischen körperlicher und psychischer Verfassung. Die Theorie: Wer die Wahrheit sagt, bleibt entspannt, wer lügt, strengt sich an. Kritiker urteilen das Gerät als unzuverlässig ab, hätten doch auch andere Faktoren als Unwahrheit Einfluss auf die gemessenen Parameter. Dirk Hertle sieht das anders. Schon 2013 machte der Bautzener Richter mit dem Einsatz des Detektors Schlagzeilen. Per Abkürzung zur Wahrheit? „Ich freue mich, dass wir uns wiedersehen“, sagt er zur Polygrafen-Expertin Gisela Klein. Der angeklagte Bautzner unterzog sich dem Test freiwillig, um die Wahrhaftigkeit seiner Aussage zu untermauern. Um 9.03 Uhr beginnt der Prozess in Saal 128. Drei Jahre, elf Monate und drei Tage, nachdem es passiert sein soll.

Als „Chance, meine Unschuld zu beweisen“, sieht Jens M. das Gerät. „Hatten Sie Angst?“, fragt Hertle. Der Angeklagte zögerlich: „Man kennt ja Geschichten von Amerika, wo etwas Falsches rauskommt.“ Hertle kontert prompt: „Aber nur aus Krimis!“ Kein Zweifel, dass Hertle keinen Zweifel am Polygrafen hegt. Andeutungen zum Ergebnis kann er sich nicht verkneifen, kommentiert Aussagen geladener Zeugen mit den Worten „Ich weiß noch mehr, das kann ich Ihnen aber erst später sagen.“

Jens M., heute 44 Jahre alt, bestreitet den Vorwurf. Das Verhältnis zu seinem Bruder sei sehr gut gewesen, gemeinsame Konzerte und regelmäßige Besuche in der Schweiz der damalige Usus. „Bis ich etwas gemacht habe, das man unter Brüdern nicht macht. Ich habe ihn mit seiner Lebensgefährtin hintergangen. Nicht körperlich, aber per SMS.“ Lebensgefährtin Nicole L. hätte ihn wegen Beziehungsproblemen zum Bruder kontaktiert. „Eines Abends sind die Worte ins Sexuelle abgerutscht.“ Rund ein halbes Jahr habe die Affäre per SMS gedauert, dann kamen die Beschuldigungen der Tochter auf. Die heute 14-Jährige wird unter Ausschluss der Öffentlichkeit befragt, ihre Mutter nicht. Die Affäre gibt sie nur spärlich zu. Im Februar 2014 habe ihre Tochter vom Missbrauch erzählt. Den Kontakt zur Familie brach die Mutter zwar schnell ab, Anzeige bei der Polizei wurde aber erst im August erstattet. Nicht von ihr, sondern vom Bruder des Angeklagten, der inzwischen von der Affäre wusste. Trotz Ladung erschien er nicht vor Gericht.

Sie hätten keinen Hunde-Sitter finden können, entschuldigt sich Nicole L. Das anfängliche Wohlwollen des Richters weicht. Zu viele Widersprüche in den Worten L.s. „Ich stecke einen Mann nicht mir nichts, dir nichts in den Bau“, ruft er durch den Saal. Dann noch die Aussagen von den Eltern des Angeklagten. Sie halten die Geschichte des Sohns für wahr. „Ich glaube, da ist ein linkes Ding gelaufen. Verschmähte Liebe“, sagt der Vater. Das Geflecht der Aussagen – ein Dschungel der Wahrheiten. Wer hat recht? Was ist gerecht? Kein Missbrauch darf ungehört bleiben. Aber auch kein Unschuldiger hinter Gittern landen. Hertle unterbricht den Prozess. Am 26. Oktober geht es weiter. Mit dem Bruder. Und dem Detektor. „Kommen Sie wieder“, fordert Hertle. „Wir wollen die Rechtswissenschaft voranbringen. Das ist von bundesweiter Bedeutung.“

Vorwegnehmen dürfe er nichts, bevor die Beweisaufnahme nicht geschlossen ist. Und doch, erneut kann er sich eine Bemerkung nicht verkneifen. Zitiert ein Urteil des Oberlandesgerichts Dresden: „Die Untersuchung mit Polygrafen ist in Sorge- und Unterhaltsverfahren ein zulässiges Mittel – um einen Unschuldigen zu entlasten.“