Politik
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Im Handstreich über die Grenze

1989 war ein Jahr der politischen Wunder. Der alte Ostblock kollabierte, die Mauer fiel. Entscheidend waren besonnene Menschen - wie am Rande eines Picknicks.

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DDR-Flüchtlinge laufen durch das geöffnete Grenztor von Ungarn aus nach Österreich. Mehr als 600 DDR-Bürger drängten sich damals durch den Grenzzaun nahe der ungarischen Stadt Sopron.
DDR-Flüchtlinge laufen durch das geöffnete Grenztor von Ungarn aus nach Österreich. Mehr als 600 DDR-Bürger drängten sich damals durch den Grenzzaun nahe der ungarischen Stadt Sopron. © Votava/dpa

Von Matthias Röder

St. Margareten/Sopron. Mit dem Hammer seines Dienstwagens schlug Johann Göltl das verrostete Schloss des seit Jahrzehnten ungeöffneten Grenztors auf. Arglos rechnete der damalige Chefinspektor des österreichischen Zolls mit einigen Österreichern und Ungarn, die nahe der Grenze an einem gemeinsamen Picknick der Paneuropa-Union teilnehmen sollten. Auch der ungarische Oberstleutnant Arpad Bella ahnte nichts. Beide wurden Schlüsselfiguren in einem brisanten und historischen Moment. 

"Statt der Delegationen kamen die Flüchtlinge", erinnert sich der 73-jährige Bella. Über die Wiesen und die Straße rennend, stürmten Hunderte von DDR-Bürgern auf den Spalt im Tor zu. Die fünf ungarischen Grenzwächter, jeder mit zehn Schuss Munition in der Pistole, verzichteten auf Weisung Bellas auf Gegenwehr. "Ich hatte Angst um meine Männer und die DDR-Bürger", sagt er heute.

Binnen kürzester Zeit hatten sich am 19. August 1989 mehr als 600 DDR-Bürger durch das Tor gedrängt. Sobald sie auf österreichischem Boden waren, fielen sich die Männer und Frauen, Väter, Mütter und Kinder in die Arme. "Sie riefen immer wieder: "Freiheit, Freiheit"", so Göltl. Diese Massenflucht von Ost nach West beschleunigte den Zusammenbruch der DDR. Unumstritten hat der dramatische Samstagnachmittag vor 30 Jahren zum Fall der Mauer nur zwölf Wochen später beigetragen. Am Jahrestag an diesem Montag wollen Kanzlerin Angela Merkel und Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban bei einem Festakt in Sopron an die historischen Ereignisse erinnern.

Der ehemalige Chefinspektor des österreichischen Zolls, Johann Göltl (l), und der ungarische Oberstleutnant Arpad Bella stehen an einem Nachbau der ungarisch-österreichischen Grenze. 
Der ehemalige Chefinspektor des österreichischen Zolls, Johann Göltl (l), und der ungarische Oberstleutnant Arpad Bella stehen an einem Nachbau der ungarisch-österreichischen Grenze.  © Matthias Röder/dpa

Ungarns kommunistische Regierung war damals sehr reformorientiert und hatte im Ostblock einzigartige Freiheiten eingeführt. Die Reisefreiheit für seine Bürger galt seit 1988, unabhängige Zeitungen wurden zugelassen und seit Frühjahr 1989 wurde die maroden Grenzanlagen nach Österreich Stück für Stück abgebaut. Immer mehr DDR-Bürger spielten mit dem Gedanken, einen Ungarn-Urlaub zur Flucht in den Westen zu nutzen. Als dann im August die Flugblätter über ein Picknick in Grenznähe mit kurzzeitiger offizieller Grenzöffnung kursierten, setzten sich viele urlaubende DDR-Bürger in ihre Trabants und Wartburgs. Doch das Problem: Für sie galt die Erlaubnis nicht, denn die Ungarn waren weiterhin verpflichtet, Fluchtversuche zu unterbinden und Festgenommene an die DDR auszuliefern.

Zu denjenigen, die es trotzdem versuchen wollten, gehörten Marlies und Bernd Grunert aus Kemberg im Landkreis Wittenberg. Der Zahnarzt und die Lehrerin wollten mit ihren beiden damals vier und sieben Jahre alten Kindern über die Grenze ins österreichische Bundesland Burgenland. "Wir haben uns niemandem anvertraut. Nicht mal die Kinder wussten, was wir vorhatten", erzählt der heute 61-Jährige. Auf dem Weg nach Ungarn über die damalige Tschechoslowakei verzichteten sie aus Angst vor den scharfen Kontrollen auf alles, was nach dem Willen zur Flucht aussehen konnte. Kein Kompass, keine Ausbildungsdokumente, keine Liste mit Telefonnummern im Westen, sei die Devise gewesen. Am 18. August wagten sie es, kamen aber nicht weit. Ungarische Sicherheitskräfte stellten sie - doch zum Glück wurden sie nicht festgenommen, sondern mussten nur aus der Grenzregion verschwinden.

"Eingeschüchtert und verunsichert haben wir uns zum Picknick nicht getraut", erinnert sich Grunert. Als sie aus den Medien von der Massenflucht hörten, sei das wie eine "zweite Niederlage" gewesen. Aber sie versuchten ihr Glück erneut. Am 20. August um 14.45 Uhr sprangen sie am Waldrand aus ihrem Auto, die Kinder trotz der Hitze wegen des Dickichts robust angezogen, den Seitenschneider in der Hand, stürmten sie los. In der Nähe eines Wachturms stießen sie auf den Zaun, schnitten ihn auf und schlüpften hindurch. "Um 16.30 Uhr waren wir in Sicherheit." Die Erleichterung sei riesig gewesen. "Gesund rüberkommen, das ist uns gelungen", sagt Marlies Grunert (59). Sie hatten alles zurückgelassen: Haus, Eltern, Freunde. Als sie in Achim nahe Bremen Quartier im Westen bezogen, war Marlies Grunert psychisch am Ende. "Ich habe nur noch geheult."

Der dramatische Nachmittag am 19. August vor dreissig Jahren und die Massenflucht haben unumstritten zum Fall der Mauer beigetragen. 
Der dramatische Nachmittag am 19. August vor dreissig Jahren und die Massenflucht haben unumstritten zum Fall der Mauer beigetragen.  © Votava/dpa

Für die Menschen im Burgenland war es eine Zeit großer Hilfsbereitschaft. Es ging nicht nur darum, die DDR-Bürger zu versorgen. Fluchthelfer wie Leopold Pusser streiften an der Grenze durch die Wälder und leiteten die manchmal orientierungslosen Menschen gen Westen - ohne Geld und auf eigene Gefahr. Pusser gehörte zu vier Männern, die von ungarischen Beamten festgenommen wurden. Doch statt mehrmonatiger Haft hätten sie nach einem Tag in einer Kaserne nur ein Betretungsverbot bekommen, sagt der heute 74-Jährige. Die Ungarn nahmen ihre Pflicht zur Verfolgung der Flüchtigen und ihrer Helfer nicht mehr wirklich ernst.

Der mächtige Mann in Moskau sah es mit Wohlwollen. Michail Gorbatschow traf später auf einer Veranstaltung die beiden besonnenen Grenzwächter vom 19. August 1989, die entgegen all ihrer Vorschriften human handelten und ihre Grenze ausnahmsweise nicht schützten. "Er hat uns lange mit beiden Händen die Hände geschüttelt und sie fast nicht mehr losgelassen. Er war ganz herzlich", erinnert sich Göltl. (dpa)