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Im Haus der anderen

Am 15. Januar 1990 stürmten wütende DDR-Bürger die Zentrale der Staatssicherheit in der Berliner Normannenstraße.Die Umstände bleiben umstritten.

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Von Ulrike von Leszczynski

Seltsam, dass von Erich Mielke nur eine Toilette geblieben ist. Unweigerlich bleibt der Blick hängen am Modell Clean Concept, einem Westprodukt aus Gersthofen bei Augsburg mit selbstreinigender Brille. Zu Beginn der 80er-Jahre muss das eine teure Hygieneneuheit gewesen sein. Sonst zeugt heute keine Spur mehr vom langjährigen Minister der DDR-Staatssicherheit in seinem geheimen Büro im Haus 18, dem größten Gebäudeklotz auf dem ehemaligen Berliner Stasi-Gelände, Ecke Normannenstraße/Ruschestraße.

Vielleicht würde sich niemand mehr für Mielkes Clean Concept interessieren, wenn Berliner Projektentwickler das Haus 18 nicht als mögliche „Event-Location“ entdeckt hätten. Es ist jenes riesige Gebäude, in das wütende DDR-Bürger am 15. Januar 1990 zuerst stürmten, als sie die Berliner Stasi-Zentrale besetzten. Hier zerfledderten sie die ersten Akten, warfen Honecker-Bilder aus den Fenstern, traten Türen ein und sprühten „Tod dem Stasi-Pack“ an die Wände.

Finanzamt und Würstchenbude

Es waren Gefühle zwischen Wut und Staunen: Über den Kantinensaal mit Räucheraal und Krabben auf dem Speiseplan, über Vorratsräume voller Dosen mit Haifischflossensuppe, über den eleganten Festsaal, das noble Konferenzzentrum oder den Frisiersalon mit Shampoo aus dem Westen. Für DDR-Verhältnisse ein Luxusbau.

Bis heute sticht Haus 18 als Klotz aus den frühen 1980er-Jahren aus diesem seltsam verbauten, graugesichtigen Viertel hervor, in das sich außer dem Finanzamt und einer Würstchenbude kaum jemand vorgewagt hat. Die Bahn, die große Teile des Geländes nach der Wende kaufte, zieht wieder aus. An die Vergangenheit erinnert nur noch das Stasi-Museum in Haus 1, das Mielkes offizielles Büro im Originalzustand bewahrt hat. Zu sehen sind Wanzen, Armbanduhren mit Mikro oder Kameras im Schlips. Das Museum macht den Eindruck, als ob alle Fortschritte der Ausstellungspädagogik einen weiten Bogen um es geschlagen haben.

Event-Location im Stasi-Klotz

Projektentwickler Frank Bochon aber schwärmt von dem Potenzial, das Haus 18 und das Gelände böten, als Veranstaltungsort für 5000 Menschen, vielleicht mit gewölbtem Glasdach. Bochon nennt das Haus die „kleine Schwester des Palasts der Republik“. Fünf Etagen, 25000 Quadratmeter Fläche, konservierter DDR-Charme. Es schreckt ihn nicht, dass die letzte große Idee als „Lichtenberger Congress Centrum“ 1999 aufgegeben wurde. Seitdem steht der Riesenbau gespenstisch leer. Aber einige Millionen Euro dürften nicht reichen, um es ordentlich zu sanieren. Deshalb zögern die Projektentwickler, den Stasi-Klotz zu kaufen.

Eine Führung durch das Gebäude ist heute ein Spaziergang durch die Vergangenheit. Filmteams drehen hier, weil das DDR-Set so perfekt ist. Im riesigen Festsaal, in dem Erich Mielke seinen 80. Geburtstag feierte, schimmert das Licht durch Mosaik-Fenster aus einem Magdeburger Glaskunst-Betrieb. Die feine Holztäfelung des VEB Intercor versprüht in Besprechungsräumen späte DDR-Eleganz. Im Kino- und Kongress-Saal blicken Besucher auf 541 braun-beige gepolsterte Sitze mit Simultan-Übersetzungsanlage. Die Waschräume zieren Mosaikfliesen in Himmelblau und Orange – damals war das Bückware.

Gastronomen und Hoteliers, die Ostalgie zu ihrem Geschäft gemacht haben, hätten hier liebend gern Waschbecken und Pissoirs abgeschraubt und die DDR-Klobürsten mitgenommen. Doch Frank Bochon hat energisch Einhalt geboten. „Ich fand es auch falsch, den Palast der Republik abzureißen“, sagt der Anfangvierziger.

Die Situation eskalierte

Der Sturm auf die Berliner Stasi-Zentrale sei Schlusspunkt einer Entwicklung gewesen, die am 4.Dezember 1989 mit der Besetzung der Stasi- Bezirkszentrale in Erfurt begann, sagt die Chefin der Stasi-Unterlagen-Behörde, Marianne Birthler. Bei den ersten Aktionen habe noch niemand gewusst, ob sich bewaffnete Stasi-Offiziere zur Wehr setzen würden. Am 15.Januar 1990 habe es dann nicht mehr ganz so viel Mut gebraucht. Die wichtigste Botschaft dieses Tages: „Die Bilder gingen um die Welt und zeigten, dass die Leute keine Angst mehr vor der Stasi haben.“

Zunächst hatten sich an dem kalten Januartag 1990 Demonstranten vor dem Ministerium für Staatssicherheit nach einem Aufruf des Neuen Forums versammelt. Was sie nicht wussten: Drinnen verhandelten schon Bürgerkomitees aus den DDR-Bezirken über eine friedliche Übergabe. Als die Tore geöffnet wurden, eskalierte die Situation. Bürgerrechtler vom runden Tisch fuhren nach Lichtenberg und verbreiteten eine Erklärung. Der Aufruf in Rundfunk und Fernsehen endete mit den Worten: „Bitte keine Gewalt.“ Auch Ministerpräsident Hans Modrow eilte in die Normannenstraße. Schließlich siegte die Besonnenheit: Die Demonstranten verließen das Gebäude. Die Ost-Berliner Polizei sah es als Verdienst der Oppositionsgruppen, dass es keine Toten gab.

Hochbetrieb am Reißwolf

Der Historiker Walter Süß, der heute für die Birthler-Behörde arbeitet, stand damals als Reporter für die „taz“ abends vor dem martialischen Rolltor zum Stasi-Gelände an der Ruschestraße. Im nahen Haus 18 entlud sich gerade die erste Wut der aufgebrachten Demonstranten. Viele Demonstranten waren empört, dass Wochen nach dem Mauerfall das Ministerium für Staatssicherheit – inzwischen umbenannt in Amt für Nationale Sicherheit – weiter funktionierte. Und die Stasi-Leute arbeiteten mit Hochdruck: Massenhaft gingen Unterlagen durch die Reißwölfe oder wurden verbrannt.

Stasi-Chef Erich Mielke, der kurz vor dem Mauerfall zurückgetreten war, saß zu diesem Zeitpunkt schon in Untersuchungshaft. Die SED-PDS ließ ihren Geheimdienst unter dem wachsenden Druck der Straße bis Mitte Januar 1990 fallen wie eine heiße Kartoffel – um die DDR und damit die eigene Haut zu retten. In Leipzig demonstrierten sie derweil schon für die Wiedervereinigung.

Der Einfluss der Bürgerbewegung auf die Stasi-Auflösung war indes begrenzt. Die Kontrolle darüber übernahm schon Anfang Februar 1990 ein eigenes Komitee, dem auch hauptamtliche Stasi-Mitarbeiter angehörten, im Frühjahr ernannte die neu gewählte Volkskammer einen Sonderausschuss. Bis im August 1990 das Gesetz über die Akteneinsicht stand, verschwand so mache Stasi-Akte.

West-Geheimdienst mit dabei

20 Jahre später wird weiter spekuliert, ob die Stasi die wütenden Massen damals selbst in den Versorgungstrakt des riesigen Betonkomplexes umlenkte. Historiker Süß weist dies zurück. Die Stasi habe aber angewiesen, dass an dem Tag nur wenige Mitarbeiter Wache halten sollten. Es gebe auch Indizien, dass damals auch westliche Geheimdienste unter den Demonstranten waren, sagt Süß. Karteien seien verschwunden. Und wie die geheimnisumwitterten Rosenholz-Dateien über Westspione der DDR-Staatssicherheit in die Hände des amerikanischen Geheimdienstes CIA gelangten, darüber wird bis heute gerätselt.

Geblieben sind von der Staatssicherheit viele Zahlen: 91000 hauptamtliche Mitarbeiter, 109000 Inoffizielle Mitarbeiter, 124593 Pistolen, 76592 Maschinenpistolen und Gewehre. Die Birthler-Behörde hat ausgerechnet, dass auf 180 DDR-Bürger ein hauptamtlicher Stasi-Mitarbeiter kam. Zwischen 1952 und 1988 sammelte die Stasi Informationen über mehr als eine Millionen Bürger und leitete 110000 Ermittlungsverfahren ein. Allein in Berlin sind 80 Regalkilometer Spitzel-Akten geblieben. Das Interesse daran ist ungebrochen. Rund 2,6 Millionen Menschen haben bisher Akteneinsicht beantragt.

Im Berliner Wohnzimmer von Heidemarie Borkowski-Foedrowitz addieren sich die Kopien ihrer Stasiakten heute auf eineinhalb Regalmeter. Sie liest in diesen Tagen viel darin. „Es hat mich eingeholt“, sagt sie. Marie B., wie ihre Freunde sie heute nennen, ist fast 70 Jahre alt und Witwe; eine Frau mit Ausstrahlung, die nicht nur wegen ihrer Hüte auffällt. „Ich bestehe darauf, dass ich kein Stasi-Opfer bin“, sagt sie sehr bestimmt. „Ich habe Widerstand geleistet, das ist etwas anderes.“ Im früheren Stasi-Untersuchungsgefängnis in der Magdalenenstraße hat sie einst gesessen. Damals, im Sommer 1971, in einer kalten Zelle ohne Fenster, nur mit Lüftungsschlitz.

Weil ihr Mann Artikel über den DDR-Alltag in der westdeutschen Wochenzeitung „Die Zeit“ veröffentlicht hatte, saßen sie beide 15Monate im Gefängnis. 1972 kaufte die Bundesrepublik das Ehepaar aus der DDR frei, erst Monate später kamen ihre Kinder nach. Marie B.s Stasiakten würden dazu taugen, ein zweites Drehbuch vom „Leben der Anderen“ zu schreiben, jenem Oscar-gekrönten Kinofilm, in dem Schauspieler Ulrich Mühe einem spitzelnden Stasi-Mann sein Gesicht leiht. „Es gibt nur einen Unterschied“, sagt Marie B. „Einen Stasi-Mann mit einer guten Seele hat es nicht gegeben.“ (dpa)