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Im Nazi-Camp bei Niesky

Heidi Benneckenstein wuchs in einer rechtsextremen Familie auf. Sie schaffte den Ausstieg.

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© Annette Hauschild

Heidi Benneckenstein rutschte nicht irgendwann in die rechtsextreme Szene ab; sie wurde in eine bayrische Neonazi-Familie hineingeboren und zu einer Rassistin und Antisemitin erzogen. Nun schrieb sie darüber und über ihren Ausstieg das Buch „Ein deutsches Mädchen“. Wir sprachen mit der 25-Jährigen auch über das „Niederschlesische Feriendorf“ ihres Vaters, auf dessen Gelände seit vielen Jahren rechtsextremistische Veranstaltungen stattfinden.

Frau Benneckenstein, wann haben Sie zum ersten Mal gemerkt, dass Ihre Familie „anders“ ist?

Soweit ich zurückdenken kann, war mir das klar. Weil ich eine Freundin hatte, bei der zu Hause so ziemlich alles anders lief. Aber ich habe das akzeptiert. Das andere war halt meine Normalität. Obwohl ich mir schon gewünscht hätte, dass es bei uns genauso abläuft wie bei meiner Freundin, liebevoller, herzlicher, lockerer. Und dass meine Mutter mal etwas dominanter aufgetreten wäre, statt immer nur unterwürfig. Aber ich wusste, dass so etwas mit meinem Vater nicht möglich war.

Wie war die Beziehung zu Ihrem Vater Helge Redeker?

Es gab kaum normale Vater-Kind-Kontakte. Das Verhältnis war kühl und distanziert. Dass ich mich mal auf seinen Fuß gesetzt und er mich gewippt hat, war schon das Höchste an Vertrautheit. Wenn ich mit ihm an seiner Modelleisenbahn gespielt habe und ganz selbstvergessen war; das hat ihm auch gefallen. Ansonsten war bei uns alles auf Konkurrenz und Wettkampf ausgerichtet. Selbst bei Tisch hat er mich und meine Geschwister ständig aufgezogen und gegeneinander ausgespielt. Ich war froh, wenn er nicht zu Hause war.

Auf Kinderbildern sehen Sie schon, mit Verlaub, etwas seltsam aus: Dirndl, altmodische Blusen, lange Röcke ...

Wir durften zu Hause Hosen tragen, aber nichts, das irgendwie modisch war. Mein Vater bestand darauf, dass meine Mutter uns nur Sachen kauft, die nicht teuer sind. Ich hatte fast gar keine neuen Klamotten, musste alles von den Schwestern auftragen. Wir sahen immer ganz anders aus als die anderen Kinder. Wenn ich mir Schulfotos anschaue – schrecklich! Es war auch alles tabu, was aus den USA kam, von McDonald‘s bis Coca Cola. Und ich hatte nur Spielsachen aus den Fünfzigern.

Sie sagen, Ihr Vater hatte das feste Ziel, Sie in der völkischen Ideologie zu erziehen. Wie lief das ab?

Unter Betonung der angeblich typisch deutschen Werte: Disziplin, Ehre, Treue, Stolz, Heimatliebe. Bücher, Gesprächsthemen, Musik, Urlaube – alles war politisiert, ohne dass es uns bewusst war. Mein Vater trat auf wie ein Offizier und behandelte uns wie Soldaten. Alles war Wettkampf. Wir konnten damals natürlich noch nicht verstehen, warum wir keine Kinderbücher von Enid Blyton lesen durften ...

Und warum?

Weil die Engländerin ist. Auch über die Internatsgeschichten von „Hanni und Nanni“ hat er sich aufgeregt, weil Internate seiner Meinung nach ein völlig falsches Erziehungsbild wiedergeben. Und als ich anfing, Hip-Hop zu hören, hat er furchtbar über diese „Kaffernmusik“ abgelästert.

Wie hat er Ihnen die Welt erklärt?

Wir wurden streng rassistisch und antisemitisch erzogen. Schwarze waren alle böse, Juden auch, Linke sowieso. Er hat uns die ständige Angst vor einem neuen Krieg gegen Deutschland eingeredet. Wir glaubten, dass alle Menschen um Deutschland herum unsere Feinde sind. Vor allem, wenn sie eine jüdische Hakennase haben.

Sie waren oft in Ferienlagern der „Heimattreuen Deutschen Jugend“ (HDJ), ein Neonazi-Verband.

Ja, wir mussten viele Ferien in solchen Lagern verbringen, es gab Winter-, Sommer-, Oster- und Pfingstlager. Viele wurden in Ostdeutschland veranstaltet, zum Beispiel bei Görlitz. Ein Lager fand in Ostpreußen statt, fast an der russischen Grenze.

Wie war der Tagesablauf?

Wie beim Militär. Morgens Wecken mit Fanfaren, dann Frühsport, Waschen, Zelt aufräumen, Zelt abnehmen lassen, Frühstück, Morgenappell, Flaggen hissen, Lieder singen – etwa alle drei Strophen des Deutschlandlieds oder „In den Ostwind hebt unsere Fahnen“ oder andere klassische Neonazilieder. Dann wurden Geländespiele mit historischem Hintergrund veranstaltet, es gab Schulungen, Vorträge, Arbeitsgemeinschaften ... Das ging abends weiter, wenn die Kleinen im Bett waren. Wir lernten, wie man Feiern vorbereitet mit dem richtigen Pathos, mit Feuersprüchen, alles so richtig im NS-Stil. Wir hörten Vorträge über NS-Helden, sahen Filme über Kriegsverbrechen der Alliierten, hörten Zeitzeugen zu, wie sie weinend ihre Leiden der Gefangenschaft erzählten. Das war für 12- und 13-Jährige natürlich sehr beeindruckend und entsprechend wirksam.

Ihr erster Freund war ein Musiker aus Sachsen und ebenfalls in der Szene. Waren Sie oft bei ihm in Bautzen?

Ja, eine ganze Weile. Was mir auffiel: Unter den Jugendlichen war und ist es wohl auch noch völlig normal und allgemein akzeptiert, rechtsextremistisch zu sein. Man kann in den heftigsten Neonazi-Klamotten überall hingehen, niemand regt sich darüber auf. Weil jeder jeden kennt. Die Kreise, in denen mein Freund und ich unterwegs waren, waren politisch kaum gebildet, aber alle extrem politisiert, nämlich rassistisch, völkisch und antisemitisch. Als Frau war das manchmal ziemlich schwierig: Oft wurde ich auf Veranstaltungen sexistisch angemacht oder angepöbelt, ohne dass jemand eingeschritten wäre.

Warum ist Ihr Vater nach Sachsen an den Quitzdorfer See bei Niesky gezogen?

Er hat das Gebiet 1999 in der festen Absicht gekauft, die Szene dort zu etablieren. Und ein HDJ-Lager zu gründen, damit man einen festen Anlaufpunkt hat, der auch zur Ausbildung dient. Die HDJ hat damals zwei Häuser dort erworben. Beim Aufbau des Lagers hat auch die Neonazi-Kameradschaft „Schlesische Jungs“ aus Niesky geholfen. Von Anfang an fanden dort Nazi-Veranstaltungen statt, wie das Pressefest des NPD-Organs Deutsche Stimme, rechtsextreme Sportfeste, Konzerte von Neonazi-Bands.

Viele Menschen machen dort Urlaub, scheinen aber nichts davon mitzubekommen. Offenbar merkt auch niemand, dass Ihr Vater und dessen zweite Frau Neonazis, Antisemiten und Holocaustleugner sind, wie Sie sagen. Finden Sie das seltsam?

Einerseits nicht. Das Gelände ist sehr abgeschieden, es gibt keine direkten Nachbarn, bis auf die vielen Gäste im Feriendorf. Die bekommen von den rechtsextremen Veranstaltungen aber oft nichts mit, weil die auf der anderen Seite der Halbinsel stattfinden, weitab vom Feriendorf. Aber wenn mal jemand, als ich dort war, doch etwas gemerkt und nachgefragt hat, wurde das nicht abgestritten. Vor allem meine Stiefmutter steht offen dazu.

Was wundert Sie andererseits?

Dass jeder, der auch nur ein bisschen sensibilisiert ist, spätestens beim Betreten der Gaststätte „Seeschänke“ auf dem Gelände etwas mitbekommen muss. Denn in deren „Afrika-Zimmer“ – meine Stiefmutter ist gebürtig aus Namibia – wird die deutsche Kolonialzeit offen verherrlicht. Und dass über das Lager meines Vaters so gut wie nichts in den Medien berichtet wurde und wird, wundert mich außerdem. Ich lebe ja in Süddeutschland, so etwas schlägt da immer Wellen, sobald es bekannt wird. In Sachsen scheint es viel normaler zu sein, dass die Nazis Immobilien haben und ihre Veranstaltungen ungestört durchziehen können. Man hat sich scheinbar längst damit abgefunden beziehungsweise betrachtet das nicht als etwas Besonderes.

Als Sie älter wurden, lernten Sie die NPD von innen kennen. Wie haben Sie die Partei erlebt?

Ich kannte sie schon früh, durch ein Lager der NPD-Jugendorganisation JN in Quitzdorf. Es war extrem primitiv. Sogar der Leiter hat sich beklagt, dass keiner Bock auf Vorträge und Schulungen hatte und alle eigentlich nur saufen wollten. Ich hab’s mir damals schöngeredet. Aber irgendwann fiel mir vor allem auf, was diese rechten Männer für weinerliche und schwache Feiglinge sind. Die meisten haben null Selbstbewusstsein. Sie gehen in die Muckibude, pumpen sich auf, tun nach außen groß und stark und hart, sind im Inneren aber voller Zweifel, Frust und Unsicherheit. Nur können sie das weder zulassen noch offen darüber reden – bloß keine Schwäche zeigen! Also saufen sie sich den Frust weg, und zwar exzessiv. Dazu passt auch das Frauenbild in der Szene: Wir sollen nach außen repräsentativ sein und der NPD ein anderes Gesicht geben, aber ansonsten den Mund halten und unsere Pflicht als Hausfrau und Mutter erfüllen.

Hat sich das typische Neonazi-Feindbild erst jetzt erweitert oder gehörten Muslime immer schon dazu?

Nein, nicht im Westen. „Neger“ und „Juden“ fanden wir schlecht, aber etwa Türken nicht unbedingt. Das hatte wohl damit zu tun, dass in München und Umgebung schon länger mehr Menschen mit Migrationshintergrund leben, man kennt das nicht anders – im Gegensatz zum Osten. Aber inzwischen ist auch das Feindbild der Muslime fest etabliert. Denn wenn Nazis und sonstige Rechtsextreme punkten können, dann mit dem Schüren von Ängsten vor Überfremdung und Terror.

Wann begann Ihr Umdenken?

Schon vor Jahren, als mir auffiel, dass viele Leute in der Szene zwar so taten als ob, sie aber gar nicht nach ihrer „offiziellen“ Ideologie handelten und lebten. Das hat mich geärgert, mir aber auch gezeigt, wie viel Fassade in der Szene war. Dann habe ich gemerkt, dass ich selber ja auch nicht streng danach lebe, und mir wurde klar: Nicht nur mit uns, mit der ganzen Ideologie stimmt etwas nicht. Das hat sich noch verstärkt, als ich meinen Freund kennengelernt habe …

… der als „Flex“ ein bekannter Neonazi-Liedermacher war.

Ja. Wir haben gemeinsam begonnen, über diese Dinge zu diskutieren und mehr und mehr daran zu zweifeln. Als ich 2009 eine Fehlgeburt hatte, begann mein endgültiger Weg hinaus. Der hat allerdings ziemlich lange gedauert und war voller Rückschläge. Und gefährlich, denn Aussteiger gelten in der Szene als Verräter, werden bedroht, oft auch bestraft. Aber die Ausstiegs-Initiative Exit hat uns extrem geholfen. Wir haben jetzt eine geheime Telefonnummer, auch unsere Wohnadresse ist bis heute geheim. Ich bin sehr misstrauisch und beobachte meine Umgebung immer ziemlich genau. Auch auf der Buchmesse habe ich jede Menge mir noch gut bekannte Rassisten und Nazis gesehen, die dort rumliefen. Zum Beispiel beim Messestand des Antaios-Verlags.

Schüchtert Sie das ein? Und hatten Sie Angst, Ihr Buch zu veröffentlichen?

Sagen wir mal so: Ich kann mich nicht ganz frei davon machen. Aber ich lasse mich nicht unterkriegen. Mir ist meine Freiheit sehr wichtig geworden. Die will ich jetzt ausleben. Mein Buch gehört dazu.

Haben Sie Kontakt zu Ihrem Vater?

Nein, schon seit Jahren nicht mehr. Ich habe auch kein Interesse mehr daran. Weil er für mich nie ein richtiger Vater war, fehlt er mir auch nicht.

Das Gespräch führte Oliver Reinhard.

Heidi Benneckenstein: Ein Deutsches Mädchen. Klett-Cotta, 252 S., 16,95 Euro