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Im Takt eines Jahrhunderts

Gerda Brytscha wurde im Ersten Weltkrieg geboren. Die Jahrtausendwende würde sie leider nie erleben – dachte sie.

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© Sven Ellger

Von Henry Berndt

Die Forelle gleitet nur so durch das Wasser, wenn Gerda Brytscha den Klassiker von Franz Schubert mit geübten Fingern zum Leben erweckt. Dabei lächelt sie sanft, vom ersten bis zum letzten Ton. Als sie noch Noten lesen konnte, spielte sie auf ihrem Keyboard sogar Präludien von Chopin. „Jetzt komme ich leider nicht mehr über die ersten zwei Zeilen hinaus“, sagt sie und lächelt ein wenig traurig. 20 bis 30 Titel hat sie aber noch im Kopf, darunter das Rennsteiglied, wie sie sogleich beweisen möchte.

© privat

Mit ihren 101 Jahren ist Gerda Brytscha die älteste Bewohnerin im Waldpark-Seniorenpflegeheim in Blasewitz. Seit drei Jahren hat sie hier ihr Zimmer. Wenn sie auf ihrem Keyboard spielen will, muss sie mit ihrem Rollstuhl nur zum Tisch herüberrollen. Und sie spielt oft. Jeden Tag. „Ich fange früh schon an, gleich nach dem Frühstück“, sagt sie. „Das ist doch das Einzige, was mir geblieben ist.“

Inzwischen erkennt sie kaum noch die Tasten. „Es ist zuletzt wieder ein bisschen schlechter geworden“, sagt sie. Die Feuchte Makula raubt ihr nach und nach das Augenlicht. Menschen, die ihr gegenübersitzen, erkennt sie nur in Umrissen. Beim Fernsehen berührt ihre Nase fast die Scheibe. „Am liebsten gucke ich Filme, die ich schon kenne, wie den Kleinen Lord“, sagt sie. Ihre geliebten Bücher nutzen ihr gar nichts mehr. „Dabei war ich immer verrückt nach Lesen. Früher unter der Bettdecke mit Taschenlampe. Die Tarzan-Bücher kannte ich auswendig.“

Immerhin machen die Hände noch mit. Das hilft ihr beim Stricken. Früher waren es Socken und Puppenkleider. Hier im Heim hat sie sich auf kleine Kuschelkatzen spezialisiert. Inzwischen ist die halbe Belegschaft damit versorgt.

Als ihr das Sehen noch etwas leichter fiel, verschrieb ihr der Arzt ein Lesegerät – einen Bildschirm, mit dessen Hilfe sie eine Zeit lang weiter lesen und vor allem auf einer Art Tafel schreiben konnte, während sie auf den Monitor guckte. Sie nutzte diese Möglichkeit, um per Hand ihre Erinnerungen aufzuschreiben. Viele Seiten mit Anekdoten kamen zusammen, nicht chronologisch sortiert, aber ein wahrer Schatz für alle, die nach ihr kommen. Vor einigen Jahren tippten ihre Enkel die Aufzeichnungen ab, fügten einige historische Fotos hinzu und ließen zwei Bücher drucken.

Darin ist zu lesen, dass Gerda Brytscha am 6. Juni 1916 zur Welt kam – mitten im Ersten Weltkrieg. Sie war das Andenken an einen Heimaturlaub ihres Vaters. Wie mit der Mutter vereinbart, hatten ihm drei Kreuze auf einer Feldpostkarte die Gewissheit über neuen Nachwuchs gebracht. Ihre Schwester Anneliese war damals zwei Jahre alt. „Für mein Erscheinen hatte ich mir nun nicht gerade die günstigste Zeit ausgesucht“, schreibt sie. Aber wenn sie nun schon einmal da war, da wollte sie auch etwas anfangen mit diesem Leben.

Sie wuchs mit ihrer Familie in einer Zwei-Zimmer-Wohnung in der Kamenzer Straße auf, ganz in der Nähe vom großen Erich Kästner, wie sie betont. Als ihre Mutter ihr ein gebrauchtes Klavier kaufte, hatte sie ihre Leidenschaft gefunden. Nach der Schule lernte sie Verkäuferin, arbeitete in Pfunds Molkerei und lernte dort einen adretten Herrn namens Walther kennen, den sie 1937 heiratete. 1953 kaufte ihre Familie ein Haus in Loschwitz, in dem sie über vier Jahrzehnte lang lebten. Christine, eine ihrer Töchter, verlor sie an die Leukämie. Die andere, Ingeborg, kommt heute noch zweimal in der Woche zu Besuch.

Nachdem Walther 2001 nach langer Krankheit starb, wohnte Gerda Brytscha zuletzt allein in einer kleinen Wohnung in Tolkewitz. Von dort nahm sie immerhin ihre große Sammlung von Puppenstubenmöbeln mit ins Seniorenheim, die sie jetzt fein säuberlich aufgestellt in einer Glasvitrine bewundern kann. Auf dem Fernseher am anderen Ende des Zimmers haben die Weihnachtsfiguren ihren Platz gefunden – das ganze Jahr über.

Auf einmal ist sie 101. „Dabei habe ich immer gesagt: Die Jahrtausendwende erlebst du nicht“. Die ist nun auch schon 18 Jahre her. Als der Wiederaufbau der Frauenkirche beschlossen wurde, dachte sie: „Schade, dass ich so alt bin und sie nie mehr in voller Schönheit sehen werde.“ Inzwischen war sie zweimal zum Orgelkonzert in der neuen Kirche. „Ich habe sogar das Kreuz gestreichelt.“

Wie sie so alt werden konnte, das kann sich Gerda Brytscha selbst nicht so recht erklären. „Das ist wohl Zufall“, sagt sie und lacht. Sie sei nie ein guter Turner gewesen und habe in der Schule hilflos an den Ringen gebaumelt. Ganz anders heute: Beim Sportfest ihres Pflegeheims, inklusive Dosenwerfen, belegte sie im vergangenen Jahr einen herausragenden dritten Platz, wie eine Urkunde in ihrem Nachttischschubfach belegt.

Gar nicht schlecht für jemanden, der im Rollstuhl sitzt, nur noch schwer hört und sich beim Essen von seiner Sitznachbarin beschreiben lässt, was auf dem Teller liegt. Gerda Brytscha nimmt das Alter mit einem Lächeln. „Ich habe so gut wie keine Schmerzen“, sagt sie und rollt schon wieder zum Keyboard. „Das ist viel wert.“

In der Serie „Ein Leben voller Leben“ stellt die Sächsische Zeitung ältere Menschen vor, die viel zu erzählen haben. Kennen Sie jemanden, der auch in diese Reihe passen könnte? Rufen Sie an unter 48642210 oder schreiben Sie an [email protected].